Grausame Spätfolgen des Amoklaufs

Der Backnanger Kripobeamte Ernst Kappel wird heute noch von Albträumen geplagt und 2017 frühzeitig pensioniert

Der Amoklauf von Winnenden und Wendlingen, der sich heute zum elften Mal jährt, hat auch das Leben von Ernst Kappel völlig verändert. Der 56-Jährige war damals als Polizist im Einsatz und leidet seitdem an einem posttraumatischen Belastungssyndrom. Nach langem Kampf um dessen Anerkennung ist er seit 2017 in Pension. Am Montag ist sein Buch „System Polizei“ erschienen.

Der Kampf um die Anerkennung seines posttraumatischen Belastungssyndroms war sehr kräftezehrend. Diesen Kampf, die furchtbaren Bilder des Amoklaufs und seine Krebserkrankung hat der 56-Jährige in seinem Buch „System Polizei“ verarbeitet. Es ist dieser Tage erschienen. Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Der Kampf um die Anerkennung seines posttraumatischen Belastungssyndroms war sehr kräftezehrend. Diesen Kampf, die furchtbaren Bilder des Amoklaufs und seine Krebserkrankung hat der 56-Jährige in seinem Buch „System Polizei“ verarbeitet. Es ist dieser Tage erschienen. Foto: A. Becher

Von Matthias Nothstein

BACKNANG/WINNENDEN. Die Bilder der erschossenen Opfer haben sich bei Ernst Kappel tief ins Gedächtnis gefressen. Heute noch leidet er an Flashbacks. In Albträumen stehen die toten Kinder an seinem Bett oder der Täter richtet in einem dunklen Flur seine Waffe auf ihn. Jahrelang hat der einstige Modellathlet dagegen angekämpft. Inzwischen ist er pensioniert, an Krebs erkrankt und austherapiert und weiß, „ich werde bald sterben“. Umso mehr freut er sich, dass jetzt noch sein Buch fertig wurde. Es heißt „System Polizei“. Es handelt auch davon, dass ein Trauma kein Tabu sein darf, und von der Frage, wie Polizei und Politik mit psychischen Erkrankungen von Einsatzkräften umgehen. Das Buch ist Kappel zufolge keine Abrechnung mit der Polizei. Vielmehr möchte er allen Menschen Mut machen, für ihre Sache zu kämpfen.

Mittwoch, 11. März 2009: Ernst Kappel gehört der Rauschgiftermittlungsgruppe der Kriminalpolizei mit Dienstsitz in Backnang an und ist ausgebildeter Kriminaltechniker im Kriminaldauerdienst. Als der Alarm vom Amoklauf alle Beamten erreicht, fahndet auch Kappel nach dem Täter, immer in der Gewissheit, dass es um Leben und Tod geht. Nachdem sich der Amokläufer selbst gerichtet hat, folgt sofort der nächste Einsatz: Kappel muss Schüler befragen, die in den Klassen waren, in denen Mitschüler und Referendare ermordet wurden. „Die Kinder waren paralysiert, die haben durch mich durchgeschaut. Ich habe die Befragung deshalb kurz gehalten, das hatte keinen Sinn.“

Der Anblick im Leichenschauhaus war schlimmer als alles bisher Gesehene

Der nächste Auftrag: Er muss einen Jungen zu seinen Eltern heimbringen. „Es war unbeschreiblich, wie es in der Familie zuging, als den Eltern klar wurde, dass ihr Kind lebt, obwohl auch es in dem Raum war, in dem andere starben.“

Der nächste Auftrag: Einen Zeugen befragen, der im Backnanger Klinikum behandelt wurde.

Der nächste Auftrag: Material für die Spurensuche an den Tatort bringen. Dann erst kehrt er zurück zu seiner Dienststelle nach Backnang. Doch das Schlimmste soll erst noch kommen.

Der nächste Auftrag: Kappel erhält den Anruf eines Vorgesetzten, er solle mit drei Kollegen die Leichensachbearbeitung übernehmen. Heißt: Im Robert-Bosch-Krankenhaus dokumentieren, wie die Leichen untersucht werden und ob alle Spuren schlüssig sind. Damals schon sagt er: „Ich pack das nicht mehr.“ Gegangen ist er trotzdem. „Auftrag ist Auftrag.“

Im Klinikum erwartet Kappel der Horror: „Da lagen über ein Dutzend Leichen von ermordeten Kindern und Lehrern, bekleidet und unbekleidet. Ich habe bis dahin weit über 100 Tote gesehen: Verbrannte, Erhängte, Wasserleichen. Aber all das war damit nicht vergleichbar.“

Erst nach Mitternacht ist die grauenvolle Arbeit erledigt. Kappel kommt gegen 2 Uhr zu Hause an. Unglaubliche Fassungslosigkeit machte sich breit. „Man hört von Amokläufen in den USA und plötzlich ist man mitten in diesem bösen Film. Und das hier im ländlichen Raum. Und alle fragen sich: Warum?“

In jenen Tage waren viele Polizeipsychologen vor Ort. Der Kripobeamte sucht auch sofort den Kontakt und will reden. Er spürt tiefe Macht- und Wehrlosigkeit.

In den Wochen danach versucht Kappel „wieder Alltag zu leben“. Doch die Albträume mit den toten Kindern quälen ihn fast jede Nacht. Er zieht sich immer mehr zurück und entwickelt ein Vermeidungsverhalten. „Plötzlich konnte ich nicht mehr in den Keller gehen. Auch nicht mehr in Metzgereien oder andere geflieste Räume. Sie erinnerten mich zu sehr an die Leichenschauräume.“

Kappel räumt ein, dass er übersensibel wurde. „Meine Reizschwelle war sehr niedrig. Bei den Einsätzen habe ich die Eigensicherung extrem ernst genommen, mehr als normal. Ich hatte bei Kontrollen die Hand immer an der Waffe. Und das, obwohl ich früher ein sicher auftretender Beamter war, egal ob bei Festnahmen oder Vorträgen in den Schulen. Das sichere Auftreten – es war plötzlich weg.“

Nach vier Monaten mit unzähligen schlaflosen Nächten konsultiert Kappel den polizeiärztlichen Dienst. Der Arzt zeigt wenig Verständnis. Kappel zitiert ihn so: „Ich weiß nicht, was Sie wollen, Sie sollten als Kripobeamter doch den Anblick von Leichen gewohnt sein. Das war jetzt halt in geballter Form.“ Die Worte „nun stellen Sie sich nicht so an“ habe der Arzt zwar nicht gesagt, „aber er hat es mir sehr deutlich vermittelt“.

Völlig desillusioniert fährt Kappel zurück und sucht später das Gespräch mit dem Leiter des polizeiärztlichen Dienstes. Immerhin zeigt dieser mehr Verständnis. Er bietet dem Hilfesuchenden eine Rehamaßnahme an. Kappel, der früher als Kampf- und Ausdauersportler und Trainer nie Schwäche zeigte, verweigert sich nicht und reist in eine Spezialklinik nach Bad Pyrmont. Das Problem: Dort ist er völlig deplatziert. Die Patienten haben zumeist Burn-out, es handelt sich um „überforderte Krankenschwestern und Männer mit Beziehungsproblemen“. Kappel: „An meinem Trauma wurde überhaupt nicht gearbeitet.“ Während einer Maltherapie und einem extremen Flashback erleidet er einen Nervenzusammenbruch. Nach neun Wochen wird er als dienstunfähig nach Hause entlassen. Er kann nicht mehr richtig essen und verliert stark an Gewicht. Trotzdem versucht er wieder zu arbeiten. Mit einer mehrwöchigen Wiedereingliederungsphase soll das Ziel erreicht werden. Doch es funktionierte nicht. Ständig muss er sich wieder krankmelden. „Dienst, krank, Dienst, krank – ich habe versucht, mich durchzuwursteln, aber das geht nicht. Mir wurde damals unterstellt, ich würde simulieren. Aber das habe ich nicht, ich habe meine Arbeit geliebt.“

Die erste richtige Konfrontation mit den Vorgesetzten lässt nicht lange auf sich warten. Im Mai 2010 kommt es zu einem Treffen, bei dem neben einer Polizeiseelsorgerin und einem Polizeipsychologen die gesamte Führung der Polizeidirektion Waiblingen anwesend ist. Die Seelsorgerin und der Psychologe hätten noch versucht zu vermitteln, er könne die geforderte Schlagzahl nicht mehr erbringen, erinnert sich Kappel, aber die Chefs habe dies kaltgelassen. Er zitiert einen Satz: „Wortwörtlich wurde gesagt: Damit eines klar ist, es gibt keine Extrawurst, Ernst Kappel. Wegen so einer Sache kann man nicht zu Hause bleiben.“ Indirekt wird ihm unterstellt, er wolle sich einen schönen Lenz machen. „Ich habe das als Faustschlag ins Gesicht empfunden.“

Hirntumor wuchert sehr schnell: „Ich werde in Kürze sterben“

Ein weiterer Einsatz 2013 bringt das Fass endgültig zum Überlaufen. In Fellbach ist ein Kind entführt worden. Nachdem Kappel seiner Erinnerung zufolge bereits 16 oder 17 Stunden im Einsatz ist, „obwohl ich keine langen Einsätze mehr machen sollte“, muss ausgerechnet er das freigelassene Kind abholen. Und das ausgerechnet noch aus einer Schule. „Das hat alles wieder ausgelöst.“

Die nüchternen Fakten: Nach mehreren Klageverfahren wird Kappel im Alter von 53 Jahren vom Verwaltungsgericht Stuttgart zum 1. Juli 2017 mit der Diagnose posttraumatisches Belastungssyndrom in Pension geschickt.

Vielleicht hätte sich Kappel danach etwas erholen können. Aber zwei Jahre zuvor wird bei ihm Krebs im Kopf festgestellt. Bei dem sehr seltenen malignen peripheren Nervenscheidentumor (MPNST) handelt es sich um einen schnell wachsenden, bösartigen Weichteiltumor. Fünfmal wird er operiert, das linke Auge entfernt. Vor einem Jahr beginnt der Tumor, auch hinter dem rechten Auge zu wuchern. Im letzten halben Jahr ist er um 200 Prozent gewachsen und neue Tumore sind dazugekommen. Kappel: „Ich werde in Kürze sterben.“

Das Buch ist für Kappel eine therapeutische Maßnahme. Daran geschrieben hat er seit 2014 und es war schon weit gediehen. Dann kommt der Krebs dazwischen. Die vielen OPs sorgen für eine Schreibblockade. Mit der Autorin Carolina Wenzel vollendet er das Buch. Recht schnell findet sich auch ein Verlag. Die letzten Monate war es für den Todgeweihten eine Riesenmotivation, das Buch noch in den Händen halten zu können. „Das habe ich geschafft. Das Buch ist etwas von mir, das bleiben wird.“ Auch wenn es wissenschaftlich nicht bewiesen ist, so ist Kappel davon überzeugt, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Amoklauf und dem Krebs gibt: „Ich musste etwas sehen, was ich nicht sehen wollte.“

Info

Die psychischen Folgen des Amoklaufs von Winnenden haben eine ganze Reihe der damaligen Einsatzkräfte gesundheitlich stark beeinträchtigt. Nur wenige gehen damit an die Öffentlichkeit. Eine Ausnahme ist Ernst Kappel, der Fehlverhalten innerhalb des „Systems Polizei“ klar benennt.

Ernst Kappel, Jahrgang 1963 und begeisterter Karatesportler, trat 1983 in den Polizeidienst des Landes Baden-Württemberg ein. Als Kriminaloberkommissar ist er während des Amoklaufs von Winnenden, bei dem 16 Menschen starben, im Einsatz. Fortan plagen ihn Panikattacken und Albträume. Bis er Hilfe findet, vergehen Jahre – in denen er sich von seinem Dienstherrn zunehmend im Stich gelassen fühlt. Kappel hat zwei Kinder und lebt in Backnang.

Caroline Wenzel ist Fernsehjournalistin und arbeitet seit 1997 als Filmautorin für den SWR, ARD und Arte im In- und Ausland. Die Psychologin aus Stuttgart hat sich während des Studiums auf Klinische Psychologie und Kriminologie spezialisiert. Gemeinsam mit Ernst Kappel hat sie das Buch „System Polizei“ verfasst und Experten interviewt.

Caroline Wenzel, Ernst Kappel, „System Polizei. Der Kommissar und der Amoklauf von Winnenden“. 334 Seiten, ISBN 978-3-7496-1019-8, 25 Euro.

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Erstellt:
11. März 2020, 06:00 Uhr

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