Was hält Baden-Württemberg vom Koalitionsvertrag?
dpa/lsw Stuttgart. „Sprengstoff“, „Programm mit Tücken“, „schöne Worte“ - die Meinungen zum Koalitionsvertrag von Grünen und CDU gehen auseinander.

Thomas Strobl (CDU) und Winfried Kretschmann (Grüne) halten den Koalitionsvertrag in den Händen. Foto: Bernd Weissbrod/dpa
Klar, die Wirtschaft muss nach vorne gebracht, das Klima mehr geschützt werden, da sind sich alle einig. Und kaum einer freut sich über die ganzen Haushaltsvorbehalte, die sich wie ein roter Faden durch den Koalitionsvertrag von Grünen und CDU ziehen. Die politischen Vorhaben der neuen Regierung werden unterschiedlich wahrgenommen im Land. Ein Überblick:
DIE POLIZISTEN - Die Deutsche Polizeigewerkschaft (DPolG) läuft seit Wochen Sturm gegen die grün-schwarzen Sicherheitspläne. Landeschef Ralf Kusterer wetterte gar in Richtung CDU, Parteien buhlten um die Gunst der Regierungsbeteiligung „wie Prostituierte auf dem Straßenstrich“. Für ihn ist der Koalitionsvertrag ein Misstrauensvotum gegen die Beamten. Dabei verspricht der Vertrag eine Stärkung der Polizei - aber auch das steht unter Haushaltsvorbehalt. Ebenfalls kritisch, wenn auch milder, fällt das Urteil der Gewerkschaft der Polizei (GdP) aus. Grüne und CDU hätten das Geld für ein neues Bauministerium lieber in die Sicherheit stecken sollen, sagt Landeschef Hans-Jürgen Kirstein. Die Gewerkschaften stören sich am Antidiskriminierungsgesetz und der Kennzeichnungspflicht für Polizisten in Großlagen.
DIE LEHRER - Baden-Württemberg ist im Ländervergleich bei der Bildung abgerutscht, mit „konsequenter Qualitätsentwicklung“ sollen die Schulen wieder an die Spitze geführt werden. Die Verbände zeigen sich optimistisch. Die Bildungsgewerkschaft GEW lobt etwa die Möglichkeit der Grundschule ohne Noten. Matthias Wagner-Uhl, Vorsitzender des Vereins für Gemeinschaftsschulen, spricht von einer zukunftsgewandten Bildungsprogrammatik, die sich „auf ein zeitgemäßes Welt- und Menschenbild stützt“. Der VBE-Landesvorsitzende Gerhard Brand findet gut, dass Grüne und CDU keine Strukturdebatten mehr führen wollen - das bringe Ruhe rein. Aber alle Verbände beklagen den Lehrermangel. Ursprünglich wollten die Koalitionäre knapp 3000 neue Stellen für Lehrkräfte schaffen - auch das steht nun unter Haushaltsvorbehalt. „Wir befürchten, dass es schöne Worte und gute Absichten sind, die nicht mit Leben gefüllt werden“, sagt GEW-Landeschefin Monika Stein.
DIE UMWELT- UND NATURSCHÜTZER: Grüne und CDU wollen mit einem ganzen Bündel an Maßnahmen und Zielvorgaben der Erderwärmung entgegentreten und Baden-Württemberg zum weltbesten Klimaschutzland machen - etwa mit einer Solardachpflicht für Wohngebäude. Der Naturschutzbund Nabu zeigt sich denn auch „einigermaßen begeistert“ von den Plänen, nennt den Haushaltsvorbehalt aber ein „Damoklesschwert“. Auch der Bund für Umwelt und Naturschutz BUND betrachtet die Schuldenbremse als Hürde für den Klimaschutz. „Natürlich kostet Umwelt- und Naturschutz Geld, aber wenn wir nichts tun, werden die Folgeschäden die Menschheit einiges mehr kosten“, sagt Landeschefin Sylvia Pilarsky-Grosch.
DIE UNTERNEHMER - Dem Baden-Württembergische Industrie- und Handelskammertages (BWIHK) erscheint der Vertrag „auf den ersten Blick als ein Programm mit Tücken“, weil die Konkretisierung von Vorhaben noch ausstehe. Die Hauptgeschäftsführer der Unternehmer Baden-Württemberg (UBW), Wolfgang Wolf und Peer-Michael Dick, sprechen von einer Herausforderung. Die Unternehmen dürften auf dem Weg zum Klimaschutzland nicht überfordert werden. Der Vertrag spiele Ökonomie und Ökologie gegeneinander aus, kritisiert der Landeschef des Wirtschaftsrats der CDU, Joachim Rudolf. Er sieht „ideologische Auswüchse“. „Zwischen einer Nahverkehrszwangsabgabe und dem Hundeführerschein entsteht der Eindruck, dass der dringend notwendige Neuanfang auf der Strecke bleiben wird.“
DIE GEWERKSCHAFTER - Die Gewerkschaften im Land stören sich vor allem am selbst auferlegten Spardiktat der Koalitionäre. Ein Neuanfang gelinge nur mit gelöster Handbremse, heißt es vom Deutschen Gewerkschaftsbund DGB. „Durch die Verankerung einer scharfen Schuldenbremse in der Landesverfassung haben die neuen und alten Koalitionäre ihre Gestaltungsmöglichkeiten stark eingeschränkt“, sagt DGB-Landeschef Martin Kunzmann. Der Abbau von Stellen im öffentlichen Dienst sei eine strategische Fehlentscheidung.
DIE STEUERZAHLER - Der Steuerzahlerbund freut sich hingegen ganz offen über den Haushaltsvorbehalt. Der Vorsitzende Zenon Bilaniuk lobt auch das grün-schwarze Bekenntnis zur Schuldenbremse. Denn Generationengerechtigkeit habe nicht nur mit Umwelt zu tun, sondern auch mit Finanzen. Allerdings regt sich die Steuerzahlerlobby auf, dass die Grunderwerbsteuer nicht gesenkt werden soll und Grüne und CDU ein neues Ministerium für Landesentwicklung aus dem Boden stampfen - denn das verschlinge durch Personalkosten Steuergeld.
DIE AUTOFAHRER - Kommunen sollen eine Nahverkehrsabgabe einführen dürfen, um den ÖPNV auszubauen und zu günstigen Preisen anbieten zu können - das findet der ADAC aber sozial ungerecht und unfair. Autofahrer finanzierten bereits jetzt durch hohe Steuerbeiträge den öffentlichen Nahverkehr mit, heißt es beim Club. „Eine zusätzliche Abgabe wäre unverhältnismäßig“, sagt ADAC-Landesvorstandschef Dieter Roßkopf. Den Ausbau der Radwege sowie der Ladeinfrastruktur für Elektro-Fahrzeuge findet er aber gut.
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