Helfen, wo sich sonst keiner zuständig fühlt

BKZ-Leser helfen: Der Neustart in einem fremden Land ist für Geflüchtete schwer genug, noch komplizierter wird es, wenn eine Behinderung, eine psychische Erkrankung oder Analphabetismus hinzukommen. Die Zukunftswerkstatt Rückenwind in Backnang kümmert sich gezielt um solche Problemfamilien.

Auch in der Pandemie hält die Zukunftswerkstatt Rückenwind Kontakt zu den Familien: Damit ihnen im Lockdown nicht langweilig wird, verteilen Hannah Nothstein und Mohammad Naser Jalab Mitmach-Adventskalender an die Kinder.Foto: J. Fiedler

© Jörg Fiedler

Auch in der Pandemie hält die Zukunftswerkstatt Rückenwind Kontakt zu den Familien: Damit ihnen im Lockdown nicht langweilig wird, verteilen Hannah Nothstein und Mohammad Naser Jalab Mitmach-Adventskalender an die Kinder.Foto: J. Fiedler

Von Kornelius Fritz

BACKNANG. Das soziale Netz ist in Deutschland engmaschiger als in den meisten anderen Ländern. Auch Geflüchtete bekommen vielfältige Unterstützung vom Staat. Trotzdem gibt es immer wieder Fälle, in denen passende Hilfsangebote fehlen: „Es gibt viele Probleme, für die es keinen Ansprechpartner gibt“, sagt Hannah Nothstein. Die Sozialarbeiterin vom Backnanger Verein Zukunftswerkstatt Rückenwind (ZWR) nennt Beispiele: Ein 13-Jähriger hat in seinem Heimatland noch nie eine Schule besucht. In Deutschland wird er nun schulpflichtig, aber wie soll das funktionieren? Oder wie bringt man einem Mann die deutsche Sprache bei, der gehörlos ist und auch keine Gebärdensprache beherrscht? Oder wie diagnostiziert man eine geistige Behinderung bei einem Kind, von dem man nicht weiß, ob es nur kein Deutsch kann oder auch kognitive Probleme hat?

Hannah Nothstein könnte noch zahlreiche solcher Spezialfälle aufzählen, die in Summe dann doch gar nicht so selten sind. Insgesamt betreut der Verein zurzeit rund 250 Personen im Backnanger Raum, vor allem Familien. Eines der größten Probleme sei Analphabetismus, erzählt die Sozialarbeiterin. Eltern, die nicht lesen und schreiben können, sind in einem fremden Land völlig hilflos. Oft übertragen sie dann die ganze Verantwortung auf ihre noch minderjährigen Kinder. „So entsteht eine wahnsinnige Abhängigkeit. Manche Kinder zerbrechen an dieser Last.“

Manchmal klingelt das Handy um zwölf Uhr nachts.

Die Zukunftswerkstatt Rückenwind setzt mit ihren Hilfsangeboten dort an, wo die staatliche Unterstützung endet. Denn wenn sich niemand um die Betroffenen kümmert, ziehen sich diese oft immer weiter zurück. Nothstein kennt einen Geflüchteten, der seine Wohnung fünf Jahre so gut wie nicht verlassen hat. Oft spiele dabei auch Scham eine Rolle: So werde etwa die geistige Behinderung eines Kindes im arabischen Kulturkreis oft noch immer als „Strafe Gottes“ angesehen, die die Eltern vor der Öffentlichkeit verstecken wollen. Die Coronapandemie habe die Probleme noch einmal verschärft, berichtet Hannah Nothstein. Menschen mit psychischen Erkrankungen oder Autismus bräuchten klare Alltagsstrukturen, die ihnen im Lockdown fehlten. Auch häusliche Gewalt nehme zu, weil oft große Familien auf engem Raum zusammenwohnen.

Um den Familien und vor allem den Kindern zu helfen, hat der 2003 gegründete Verein verschiedene Projekte gestartet. Eines der wichtigsten sind die sogenannten Hierseinshelferinnen und -helfer. Dabei handelt es sich um rund 30 Ehrenamtliche, die selbst als Flüchtlinge oder Migranten nach Deutschland gekommen sind und nun jeweils eine oder zwei Familien betreuen. Einer von ihnen ist der 24-jährige Aref Alizada, der 2016 aus Afghanistan über die Balkanroute nach Deutschland gekommen ist. Inzwischen spricht er so gut deutsch, dass er im kommenden Jahr ein Duales Studium in Sozialer Arbeit beginnen will.

Schon jetzt betreut er ehrenamtlich zwei afghanische Familien. „Ich bin in dem Projekt, weil ich selbst viel Hilfe bekommen habe, als ich nach Deutschland kam“, sagt Alizada. Für „seine“ Familien ist er Ansprechpartner in allen Lebenslagen: „Manchmal rufen sie mich um zwölf Uhr nachts an.“ Die Hierseinshelfer begleiten ihre Klienten zu Terminen beim Arzt oder auf dem Amt, auch bei Elterngesprächen in der Schule sind sie dabei. „Wir versuchen, Vermittler auf allen Ebenen zu sein“, sagt Hannah Nothstein.

Es fehlt ein eigenes Auto für die Fahrdienste.

Besonderes Augenmerk legt die Zukunftswerkstatt Rückenwind auf die Kinder. Vor Corona hat der Verein in jeden Schulferien eine Märchenwerkstatt organisiert. In Kleingruppen durften 5- bis 14-Jährige dort zusammen basteln, kochen und werkeln. Neben dem Spaß ging es dabei auch darum, die Kinder gezielt zu fördern: „Denn es gibt Sechsjährige, die noch nie eine Schere in der Hand hatten“, erzählt die Sozialarbeiterin. Corona hat auch dieses Angebot ausgebremst, aber die Verantwortlichen haben sich Alternativen überlegt: So haben sie jetzt an mehr als 70 Kinder einen Mitmach-Adventskalender verteilt. Darin finden diese jeden Tag eine kleine Aufgabe und das dafür notwendige Material, zum Beispiel einen Kreidestift, um das Fenster zu bemalen oder eine Ausstecherform zum Gutslebacken.

Ihre Arbeit finanziert die Zukunftswerkstatt Rückenwind über Projektmittel, die sie bei verschiedenen Stiftungen und Institutionen einwirbt. So wird etwa die Arbeit der Hierseinshelfer für drei Jahre von der „Aktion Mensch“ unterstützt. Trotzdem tun sich immer wieder finanzielle Lücken auf und ein großer Wunsch, der schon lange ganz oben auf der Liste steht, konnte bis jetzt nicht erfüllt werden: ein eigenes Auto.

Das wäre dringend nötig für die zahlreichen Fahrten, etwa zu Ärzten oder in die Kinder- und Jugendpsychiatrie nach Weinsberg. Auch die Förderangebote funktionieren oft nur, wenn man die Kinder von zu Hause abholt. Sie vorbeizubringen, würde viele Eltern überfordern, weiß Hannah Nothstein. Bis jetzt muss sie sich dafür aber immer ein Auto vom ebenfalls in der Flüchtlingsarbeit engagierten Verein Kubus ausleihen, mit dem sie sich auch die Büroräume teilt. Die beiden Initiativen helfen sich gerne gegenseitig, doch wenn die Kollegen ihr Auto selbst brauchen, gibt es ein Problem. Die Spendenaktion „BKZ-Leser helfen“ will deshalb mit einem Zuschuss dabei helfen, dass der Verein ein eigenes Fahrzeug anschaffen und so künftig noch schneller und flexibler helfen kann.

Helfen, wo sich sonst keiner zuständig fühlt
Die aktuelle Spenderliste

Anneliese und Herbert Baumstark; Renate Denz; Ursula Raschko; Elsbeth und Paul Strohmaier; Thomas und Kay Kehrer; Monika und Hartmut Gaudig; Jürgen Fey, Steinheim; Erika Maenner; Monika und Wolfgang Hirzel; Ursula Koesling; Franz Neuwirth; Christel und Peter Korb, Backnang; Irene und Horst Schlaile; Birgit und Rainer Knödler; Waltraut Schreiber; Marion Maier; Lotte Hochrein; Monika Janko; Monika Schwaderer, Burgstetten; Christa Bochterle; Margarete Ficker; Hanna und Thomas Viehweger; Brunhilde Schock; Ute und Klaus Küstner; Erika Tessar, Backnang; Monika Nickel, Backnang; Helmut Prutzer; Anna Rist; Hugo Werner; Dr. Eckart Huhs; Waltraut Kemmler, Backnang; Helm Eckart Hink; Rita Sorg; Horst Giesecke; Edith Mack; Herbert Stapf; Marianne Nickel; Liselotte Boelcke; Wilhelm Layher, Kirchberg; Liselotte Georgi; Friedrich Wienbroer; Emma und Gerhard Mayer; Sigrid Igl; Edith Kirschner, Spiegelberg; Brigitte Ciemiga; Walter Hirzel; Elsbeth und Hans-Peter Richter, Backnang; Heike und Thomas Lutter, Oberstenfeld; Bärbel und Rolf Dinkelacker, Backnang; Regina Konrad, Waldrems; Jutta Korn; Barbara Koestel; Beate Doffinger, Backnang; Dagmar Sachs; Mechtild Groebner; Angelika und Günter Sanzenbacher, Weissach; Barbara Klöpfer; Irmtraud Mahler; Marianne und Heinz Schlehner Nachlass; Claudia und Uwe Kurz; Susanne Holli; Gunter Klotz; Ulrike Ziebel; Elisabeth und Willy Sattler; Brunhilde Heck; Helga u. Günter Brunner; Doris Suckut; Margrit Kronmüller; Angelika Bader, Backnang; Lore Knapp, Backnang; Reinhardt Schiller; Michael Schneider; Siglinde Hohloch; Margarete Schaffler; Luise und Ulrich Schielke; Erna und Gerhard Hinderer; Adolf Schule; Hans Bucher; Helga Temme; Andrea und Ralf Faust; Karin Cadus; Barbara und Franz Wangler; Christine Eschment; Renate und Reinhold Fischer, Burgstetten; Dr. med. Werner Huberle; Karinund Thomas Herter; Helga und Dieter Koelsch; Raphael Apotheke Ines Schweizer; Schiller Apotheke Irene + Volker Müller; Gabriele und Bernd Wengel, Oppenweiler; Elisabeth Kramer; Ingrid und Dr. Dieter Ammer; itandmohr GmbH, Backnang; Renate Bay; Jeanette und Dirk Hueber; Karin Klaus; Marga und Klaus Zink; Ruth Eisele; Annette und Wolfgang Neumann; Uwe Gerstenlauer; Inge Kiefer; Hans Lang; Reinhilde Pfleiderer; Werner Mögle, Backnang; Brunhilde und Lothar Frey; Edith Schnell, Weissach; Rosemarie Brandl; Christine und Helmut Bauer; Hans-Peter Kossack; Helga Sommer; Herta und Helmut Schwarz; Corinna und Stephen Weber; Rose Pawlik, Backnang; Christa und Karl Kukule. Allen Spendern gilt ein herzliches Dankeschön.

Zum Artikel

Erstellt:
17. Dezember 2020, 06:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen