Selbstbeteiligung für Versicherte: Höheres Risiko, höhere Kosten?

Der Freiburger Wirtschaftswissenschaftler Bernd Raffelhüschen hat mit seiner Forderung nach mehr Selbstbeteiligung für gesetzlich Versicherte eine bundesweite Debatte angestoßen. Die Ärzteschaft in Backnang sieht den Vorschlag aus verschiedenen Gründen kritisch.

Von Kai Wieland

Rems-Murr. Mit seinem Vorschlag, gesetzlich Krankenversicherten jährlich bis zu 2000 Euro Selbstbeteiligung aufzuerlegen, sorgte der Wirtschaftswissenschaftler Bernd Raffelhüschen letzte Woche für große Aufregung – und für postwendenden Widerspruch durch Gesundheitsminister Karl Lauterbach via Twitter.

Der Freiburger Ökonom mahnt mit Blick auf das erwartete Milliardendefizit der Krankenkassen für das laufende Jahr zur Anpassung des Gesundheitssystems: „Wir können uns das System nicht mehr leisten, Patienten müssen künftig mehr aus eigener Tasche dazubezahlen.“ Andernfalls drohe ein Ansteigen des Beitragssatzes von derzeit 16 Prozent auf 22 Prozent bis 2035.

Neben der gestaffelten Selbstbeteiligung, bei der Geringverdiener durch Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt unterstützt werden sollen, spricht er sich außerdem dafür aus, dass Krankheiten und Verletzungen aus „selbst gewählten“ Risiken vollständig oder anteilig von den Patientinnen und Patienten übernommen werden. Das bedeutet: Rauchen, Übergewicht oder das Ausüben einer risikoreicheren Sportart wie Skifahren könnten im Krankheits- oder Verletzungsfall höhere Arztkosten für Betroffene nach sich ziehen.

Kritik kommt aus allen Lagern

Die Reaktionen auf diesen Vorstoß ließen nicht lange auf sich warten. Der Sozialverband Baden-Württemberg widerspricht in einer Pressemitteilung und fordert stattdessen eine grundlegende Reform des Gesundheitssystems. Eine Selbstbeteiligung in der genannten Höhe sei völlig realitätsfremd. „Viele Menschen in Deutschland können sich keine 500 bis 2000 Euro im Jahr für Arztbesuche leisten. Am Ende würde nur die Gesundheit darunter leiden“, heißt es in der Pressemitteilung weiter. Es sei zudem unsolidarisch, die Krankenkassenbeiträge über stärker belastete Seniorinnen und Senioren zu stabilisieren. Die paritätische Finanzierung der Krankenkassenbeiträge würde letztendlich zur Entlastung der Arbeitgeber führen, die als Einzige von dem Vorschlag profitierten.

Während der Sozialverband vor allem die „Entsolidarisierung“ und die Ungerechtigkeit bemängelt, welche Raffelhüschens Vorschläge kennzeichneten, regen sich auch kritische Stimmen aus der Praxis hinsichtlich der Umsetzbarkeit der Ideen. Zu den Vorschlägen des Ökonomen zählt die Ausstellung einer Kopie der Arztrechnung an die Patienten, woraufhin diese den ausgewiesenen Eigenanteil selbst zu überweisen hätten. „Dieser bürokratische Mehraufwand würde den gesamten ambulanten Bereich zum Zusammenbrechen bringen“, sagt Jens Steinat, Vorsitzender der Ärzteschaft Backnang. „Jeder Arzt müsste zwei bis drei zusätzliche Bürokräfte einstellen, was überhaupt nicht refinanzierbar wäre. Und das nächste Problem wären dann die drohenden Zahlungsausfälle.“

Geht es nach Bernd Raffelhüschen, zahlen Patientinnen und Patienten die Arztgebühren für Verletzungen beim Skifahren und anderen risikoreicheren Freizeitaktivitäten zukünftig selbst. Symbolfoto: Adobe Stock/anatoliy_gleb

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Geht es nach Bernd Raffelhüschen, zahlen Patientinnen und Patienten die Arztgebühren für Verletzungen beim Skifahren und anderen risikoreicheren Freizeitaktivitäten zukünftig selbst. Symbolfoto: Adobe Stock/anatoliy_gleb

Auch die Krankenkassen sehen die Idee des Wirtschaftswissenschaftlers skeptisch. „Der Vorschlag geht aus unserer Sicht in die völlig falsche Richtung“, sagt Johannes Bauernfeind, Vorstandsvorsitzender der AOK Baden-Württemberg. „Die Erfahrungen mit der quartalsweisen Praxisgebühr haben bereits gezeigt, dass vor allem einkommensschwache Versicherte dadurch oftmals auch auf notwendige Arztbesuche verzichten, was zu höheren Folgekosten führen kann.“ Gerade angesichts der ohnehin gestiegenen Lebenshaltungskosten lehne man eine solche Idee daher ab. Ähnlich sieht man es bei der IKK classic. „Die Erhöhung der Selbstbeteiligung entfaltet kaum eine dauerhafte Steuerungswirkung, sondern führt nur zu einer zusätzlichen Belastung der Versicherten, die 2023 ohnehin schon höhere Kosten tragen müssen“, sagt ein Sprecher der Krankenkasse. Man müsse die Qualität und Strukturen im Gesundheitswesen verbessern, ehe man den Geldbeutel der Versicherten anfasse.

Handlungsbedarf ist nicht zu leugnen

Bei aller Kritik an Raffelhüschens Vorschlag bleibt allerdings die Frage, wie das marode Gesundheitssystem anderweitig saniert werden könnte, denn das Defizit der Krankenkassen lässt sich nicht wegdiskutieren.

Der Sozialverband VdK spricht sich für die Einführung einer Bürgerversicherung aus, in welche auch Beamte und Selbstständige verpflichtend einzahlen. Außerdem sollten versicherungsfremde Leistungen zukünftig aus Steuermitteln finanziert werden, denn aktuell stünden dem Steuerzuschuss von 14,5 Milliarden Euro nicht beitragsgedeckte Leistungen von 37 bis 57 Milliarden Euro gegenüber, beispielsweise durch die beitragsfreie Mitversicherung von Familienmitgliedern. Diese Kosten seien von der Allgemeinheit zu tragen, nicht von den Beitragszahlern, argumentiert der Sozialverband.

Jens Steinat sieht ebenfalls den Staat in der Pflicht. Es gebe viel Potenzial, um Kosten einzusparen, man denke da etwa an die Landesheimbauverordnung. Diese wird für ihre strengen Vorgaben kritisiert, sorgt für hohe Kosten bei den Gemeinden und teilweise Kopfzerbrechen, aktuell zum Beispiel in Weissach im Tal (wir berichteten). „Da sollte sich der Staat auch mal an die eigene Nase fassen und nicht alles auf die Bürger abwälzen“, findet der Facharzt aus Oppenweiler. Außerdem regt Steinat ein Nachdenken über die Verwaltungsstrukturen an. So stelle sich etwa die Frage, ob es die Vielzahl von Krankenkassen in Deutschland tatsächlich brauche, schließlich vergrößere auch das den Verwaltungsaufwand.

Auch die Krankenkassen selbst fordern ein Handeln der Politik. „Sie muss die dringend notwendigen Reformen im Gesundheitswesen angehen“, sagt Johannes Bauernfeind von der AOK. „Dazu gehört, dass der Staat seiner Verantwortung nachkommt und adäquate Beiträge für Bezieherinnen und Bezieher von Bürgergeld bezahlt.“ Darüber hinaus müsse der Fokus stärker auf Wirtschaftlichkeit und Nutzen liegen.

Steinat sieht auch sinnvolle Aspekte

Im bundesweiten Presseecho auf Raffelhüschens Vorschlag galt ein Hauptkritikpunkte der Frage, wann denn überhaupt ein „selbst verschuldetes“ Risiko vorliege, wie sich dieses bemessen lasse und ob es sich dabei nicht um eine Bevormundung der Bürger in ihrer Freizeitgestaltung handle.

Auf die praktische Ausgestaltung wird es so schnell keine Antwort geben, aber die Idee dahinter findet Jens Steinat durchaus nicht verkehrt. „Es ist richtig, gesundheitsbewusstes Verhalten zu fördern. Ein eigenverantwortliches Verhalten im Hinblick auf die Gesundheit muss in der Bevölkerung noch stärker ankommen“, sagt er und verweist auf die knappen Ressourcen, nicht nur in finanzieller Hinsicht. „Den Vorschlag von Bernd Raffelhüschen lehne ich ab, weil er sozial ungerecht und in der Praxis nicht umsetzbar ist. Ich halte es aber für denkbar, das Risikoverhalten der Menschen in die Kassenbeiträge einzuarbeiten.“

Steinat greift in diesem Zusammenhang auf seine Erfahrungen als Assistenzarzt in der Schweiz zurück. Dort sei es etwa üblich, dass Zahnarztkosten in noch viel größerem Maße als in Deutschland von den Patientinnen und Patienten selbst getragen würden. Das führe aber auch dazu, dass sich die meisten Schweizer drei- bis viermal am Tag die Zähne putzen.

Paritätische Beitragszahlung

Beitrag zur gesetzlichen Krankenversicherung Zur Finanzierung der Gesundheitsversorgung wird bei gesetzlich versicherten Beschäftigten ein prozentualen Anteil am Bruttoarbeitsentgelt direkt an die Krankenkassen abgeführt. Der Beitragssatz wird anteilig vom Arbeitgeber und Arbeitnehmer getragen. In Deutschland stieg er zum Jahresbeginn um 0,3 Prozentpunkte auf durchschnittlich 16,2 Prozent.

Allgemeiner Beitragssatz Er ist vom Gesetzgeber festgelegt und beträgt derzeit 14,6 Prozent des Bruttolohns. Arbeitgeber und Arbeitnehmer übernehmen dabei jeweils die Hälfte.

Zusatzbeitragssatz Die Höhe dieses Satzes wird von den Krankenkassen selbst bestimmt. Bei der IKK classic beträgt er für das Jahr 2023 1,60 Prozent, ebenso bei der AOK.

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Erstellt:
27. Februar 2023, 06:00 Uhr

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