Hoffnungslosigkeit auf Lesbos

dpa Lesbos. Nach jedem Regen versinken Zelte im Schlamm, Strom gibt es nur mit Glück, Toiletten sind Mangelware: Gut 100 Tage nach dem Großbrand des Flüchtlingslagers Moria kämpfen Helfer gegen den Winteranfang. Und gegen die Gleichgültigkeit vieler EU-Staaten.

Das provisorische Zeltlager „Kara Tepe“: Das Lager soll noch schlimmer als das Lager Moria sein, das vor gut 100 Tagen bei einem Großbrand zerstört wurde. Foto: Panagiotis Balaskas/AP/dpa

Das provisorische Zeltlager „Kara Tepe“: Das Lager soll noch schlimmer als das Lager Moria sein, das vor gut 100 Tagen bei einem Großbrand zerstört wurde. Foto: Panagiotis Balaskas/AP/dpa

Moria ist abgebrannt - doch die Hoffnung so mancher auf ein Ende des Elends der Migranten und Flüchtlinge auf Lesbos hat sich damit nicht erfüllt.

Im neuen, provisorischen Lager auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz Kara Tepe (Griechisch: Mavrovouni) hausen rund 7500 Menschen, darunter viele Kinder, Schwangere und Kranke. Sie teilen sich 400 Dixie-Klos, die bei Stürmen auch mal umfallen, sowie 200 Duschen, nur ein paar wenige mit warmem Wasser.

Hilfsorganisationen warnen immer wieder: Kara Tepe sei noch schlimmer als das Lager Moria, das vor gut 100 Tagen bei einem Großbrand zerstört wurde und als Symbol für das Scheitern der europäischen Asylpolitik galt. Doch die Appelle bleiben weitgehend ungehört.

„Nach Kenntnis der Bundesregierung ist das Zeltlager Mavrovouni aktuell mit winterfesten Zelten ausgestattet“, heißt es jüngst in einer Auskunft des Bundesinnenministeriums an die Grünen-Fraktion. Wie winterfest, beschreibt eine deutsche Ärztin der dpa: Regnete es, entstehe eine Schlammwüste samt Flüssen und Seen. Das Lager liegt direkt am Meer und sei damit Sturmböen ausgesetzt, die Planen mit sich rissen und Zelte zerstörten. Helfer kämpften darum, die Zelte wenigstens mit Holzpaletten zu unterbauen, damit sie beim nächsten Regen nicht von Matsch überschwemmt würden.

Ihren Namen möchte die Ärztin lieber nicht nennen. Ein neues Gesetz der griechischen Regierung verbietet es Helfern in Flüchtlingslagern, mit Medien über Missstände zu sprechen, wie die Organisation Reporter ohne Grenzen kritisiert. Fotografen haben keinen Zutritt mit der Begründung, sie könnten Corona in das Lager einschleppen. „Aber Corona ist hier noch die geringste Sorge. Bei all dem, was die Menschen im Camp überleben, ist es nicht Corona, das dem Gesundheitszustand zu schaffen macht“, sagt die Ärztin.

Es sind vielmehr die unzureichende Versorgung und die Aussichtslosigkeit. Mangels Waschmöglichkeiten seien Krätze und Läuse allgegenwärtig, behandelt würden häufig offene Wunden, Abszesse, Durchfall- und Atemwegserkrankungen sowie Gelenkschmerzen, die sich wegen der Feuchtigkeit und schlechter Schlafstätten einstellen. „Die Lebensbedingungen hier machen krank“, sagt die Medizinerin.

Die griechische Regierung wehrt sich gegen Vorwürfe: So seien etwa Berichte über Rattenbisse bei Babys erfunden, die Medien verzerrten die Realität, gerade erst habe Migrationsminister Notis Mitarakis das Camp mit Lokaljournalisten besucht, teilte das Migrationsministerium am Montag mit. Es gebe Probleme, doch die würden angegangen, die gesundheitliche Versorgung werde vom Roten Kreuz und anderen Organisationen abgedeckt.

Vorfälle mit Babys und Ratten kann auch die deutsche Ärztin nicht bestätigen, doch die medizinische Versorgung befinde sich auf allerniedrigstem Niveau, sagt sie. Jeden Tag müssten Patienten weggeschickt werden, schon morgens um sechs stünden die Menschen an. „Hinzu kommen psychische Probleme, da haben wir die ganze Bandbreite, darunter regelmäßig Suizidversuche.“

Auch zu Gewaltausbrüchen kommt es immer wieder - vergangene Woche soll im Lager ein dreijähriges Mädchen vergewaltigt worden sein, wie SOS-Kinderdörfer mitteilten. Es herrscht Angst. „Nachts ist es hier stockdunkel, die Frauen trauen sich nicht aus den Zelten, um auf Toilette zu gehen“, sagt die Ärztin. Denn Strom, erklärt sie, gebe es nur per Generator und dann nur ein, zwei Stunden am Tag.

Und all das, obwohl Griechenland in den vergangenen fünf Jahren laut der EU-Kommission mehr als 2,8 Milliarden Euro aus EU-Töpfen für das Migrations-Management bekommen hat. Fragt man die Brüsseler Behörde, ob sie mit den Zuständen in Kara Tepe zufrieden sei, heißt es, die Bedingungen blieben „sehr schwierig“. Man arbeite aber intensiv an einer dauerhaften Lösung. So hat die Behörde Anfang Dezember eine Absichtserklärung mit Griechenland unterschrieben, dass bis September 2021 ein neues, dauerhaftes Lager auf Lesbos entstehen soll. So lange müssen die Menschen wohl weiter im Übergangslager wohnen.

Die EU-Kommission betont, nach dem Moria-Brand sei Kara Tepe in „Rekordzeit“ aus dem Boden gestampft worden und habe alle obdachlos gewordenen Menschen aufnehmen können. Dies sei damals absolute Priorität gewesen. Derzeit arbeite man mit den griechischen Behörden und anderen Organisationen daran, die Bedingungen zu verbessern.

So seien mittlerweile alle Zelte winterfest und Heizungen für jedes Zelt sollten bald verteilt werden. Auch Warmwasserduschen seien installiert und die Anzahl an Duschen und Toiletten sei seit Oktober deutlich erhöht worden. Ebenso werde der Schutz vor Überschwemmungen gerade fertiggestellt. Derzeit werde am Elektro-, Wasser- und Abwassernetz gearbeitet. Auch die Bundesregierung schickte seit September acht LKW-Konvois. Die Bewertung der Lage ist in Brüssel und Berlin deutlich anders als vor Ort.

Nun soll bis September eine Art Vorzeige-Lager auf Lesbos entstehen - unter Mitwirkung der EU-Kommission und mehrerer EU-Behörden. Derzeit werde ein Standort gesucht, heißt es. Entstehen soll ein Lager mit Bereichen zum Wohnen, für Neuankömmlinge, für die medizinische Versorgung und zur Erholung - etwa für Sport oder zum Spielen. In Fertighäusern sind Bildungsangebote geplant - aber auch ein Haftbereich. Anstelle der abschreckenden Wirkung von Camps wie Moria oder Kara Tepe sollen hier - zumindest wenn es nach der EU-Kommission geht - Asylverfahren und Rückführungen zügig durchgeführt werden.

Die oft beschworene europäische Solidarität zeigte sich nach dem Moria-Brand zunächst nur verhalten. Nach einigen Tagen erklärten sich dann zehn europäische Länder bereit, 400 Minderjährige aus Griechenland aufzunehmen. Weitere folgten im Laufe der Wochen. Mit Stand 23. November habe es Angebote für knapp 2700 Umsiedlungen von der Insel Lesbos gegeben, heißt es aus der EU-Kommission. Knapp 1000 davon seien bislang durchgeführt worden. Zudem seien nach dem Moria- Brand knapp 2900 Personen aufs griechische Festland gebracht worden.

In Deutschland wären etliche Länder und Kommunen bereit, deutlich mehr Menschen als bislang aufzunehmen. Bei den letzten Kontingenten mit 1703 Plätzen wären die Länder zur Aufnahme von insgesamt 4253 Menschen bereit gewesen, heißt es beim Bundesinnenministerium. Das allerdings verhindert Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU). Er besteht darauf, dass andere europäische Länder sich an der Aufnahme von Migranten aus Griechenland beteiligen. Je weiter sich Deutschland vorwagt, desto geringer sei die Bereitschaft zur Aufnahme anderswo, so die Befürchtung.

Insgesamt hat Deutschland seit März 1518 Migranten aus Griechenland aufgenommen. Die Forderungen nach einer deutlich großzügigeren Aufnahme reißen jedoch nicht ab. Vor wenigen Tagen erst forderten mehr als 240 Bundestagsabgeordnete aller Fraktionen außer der AfD in einem „Weihnachtsappell“ neben einer „europäischen Lösung“ auch eine verstärkte Aufnahme von Migranten aus Griechenland in Deutschland.

„Ich kenne solche Zustände aus Afrika, aus Südamerika - aber das hier ist Europa“, bilanziert die deutsche Medizinerin. Für junge Europäer sei die Situation extrem frustrierend, dass in ihrer zivilisierten Staatengemeinschaft solch ein Lager möglich sei. „Eigentlich sollte die ganze europäische Chefetage mal eine Woche hier im Camp leben und in Zelten schlafen, damit die wissen, wie das ist.“

© dpa-infocom, dpa:201222-99-780483/2

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Erstellt:
22. Dezember 2020, 07:15 Uhr

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