Hundertfacher Betrug: Bewährung oder nicht?

Die Plädoyers im Prozess gegen eine 65-jährige Gemeindereferentin, die ihre Opfer um Hunderttausende Euro gebracht hat

Am Stuttgarter Landgericht wird morgen das Urteil gefälltt.Archivfoto: A. Becher

© Pressefotografie Alexander Beche

Am Stuttgarter Landgericht wird morgen das Urteil gefälltt.Archivfoto: A. Becher

Von Martin Winterling

FELLBACH/STUTTGART. Bei den fast 300 Betrügereien gibt es kein Vertun. Eine 65-jährige ehemalige Gemeindereferentin hat gestanden, mehr als 100 Leute um Hunderttausende Euro betrogen zu haben, darunter den eigenen Bruder. Ihre Opfer hat sie meist in ihrem kirchlichen Umfeld gefunden. Kann sie dennoch auf eine Bewährungsstrafe hoffen?

Der Staatsanwalt nannte sie eine „Serientäterin“ und forderte zwei Jahre und zehn Monate Gefängnis. Der Verteidiger rang in seinem Plädoyer um Bewährung für seine Mandantin. Beinahe regungslos, den Kopf abgestützt, verfolgte die Angeklagte das fast einstündige Plädoyer des Staatsanwaltes.

„Ich weiß, dass ich viel Mist gemacht habe“

Kaum Reaktion zeigte die 65-Jährige, als ihr Verteidiger, der Waiblinger Rechtsanwalt Jens Rabe, die 8. Strafkammer des Landgerichts Stuttgart zu überzeugen versuchte, dass sie doch eine Bewährungsstrafe verdiene, die der Staatsanwalt für völlig ausgeschlossen hält. Seine Mandantin sei nicht nur eine Täterin, sondern war auch Opfer eines Betrügers. Bei ihrem Schlusswort brach es aus der Angeklagten heraus. „Ich weiß, dass ich viel Mist gemacht habe“, sagte sie unter Tränen. „Ich kann mich nur entschuldigen bei allen, die ich belogen und betrogen habe. Entschuldigung.“

Folgt die Kammer unter dem Vorsitz von Ulrich Tormählen eher dem Strafantrag des Staatsanwaltes, dann kommt für die 65-Jährige keine Bewährung infrage. Strafmildernde Umstände fielen dem Vertreter der Anklage kaum welche ein außer ihrer Straffreiheit bis 2014, als die Betrügereien einsetzten, dem Geständnis und der Tatsache, dass sie selbst ein Opfer von Betrügern war.

Umso länger war seine Liste der Punkte, die gegen die Angeklagte und eine Bewährung sprächen. „Die Angeklagte hat das ihr entgegengebrachte Vertrauen gezielt missbraucht.“ Ihre Opfer hat die Gemeindereferentin in den Kirchengemeinden in der Region gefunden, in denen sie tätig war. Sie habe über die Jahre eine „erhebliche kriminelle Energie“ an den Tag gelegt, in dem sie beispielsweise Bankunterlagen fälschte, um ihre Lügenkonstrukte aufrecht zu erhalten.

Ihre mitleiderregenden Krankheitsgeschichten, die sie Freundinnen auftischte, erwiesen sich ebenfalls als erfunden. Vor allem aber nahm der Staatsanwalt der Angeklagten ihre zur Schau gestellte Reue nicht ab. Er nahm Bezug auf das psychologische Gutachten, das die 65-Jährige als voll schuldfähig und als Blenderin beschrieb, die „charmant lügen und manipulieren“ könne. Eine positive Sozialprognose könne er der Frau deshalb nicht bescheinigen.

72 der 291 Anklagepunkte

mussten gestrichen werden

Aus seiner Anklage musste der Staatsanwalt zwar 72 der insgesamt 291 Anklagepunkte streichen. Sie hatten den Bruder der Angeklagten betroffen, der jedoch zu spät seinen Strafantrag gestellt hatte. Gleichwohl wiegen für den Vertreter der Anklage gerade diese Betrugsfälle schwer, die den 67-Jährigen um 150000 Euro brachten. Er leide bis heute darunter. Die verbliebenen 219 Einzelstrafen zwischen sieben Monaten und einem Jahr fasste er zu einer Gesamtstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten Gefängnis zusammen. Ohne Bewährung.

Ziel des Verteidigers Jens Rabe in dem Prozess war und ist, für seine Mandantin eine Bewährungsstrafe herauszuholen. Viele Jahrzehnte habe Katarina K. (Name geändert) in geordneten Verhältnissen gelebt und habe als Gemeindereferentin gute Arbeit geleistet. 2014 sei es zu einem Knick in ihrem Leben gekommen, nachdem sie sich bei ihrem Bruder 17000 Euro für ein Auto lieh und danach einem Betrügerring auf dem Leim ging. Der versprach, gegen einen Vorschuss, ihr ein Darlehen zu vergeben doch das versprochene Darlehen ist nie gekommen. Dennoch hat Katarina K. gezahlt und gezahlt und weiter gezahlt. Warum? „Man greift sich an den Kopf.“ Seiner Mandantin habe die Fähigkeit gefehlt, die Sache nüchtern zu betrachten „Der Deckel der Vernunft flog weg“, beschrieb Rabe ein Verhalten, das ihm auch schon bei anderen seiner Mandanten aufgefallen sei, die Opfer von Betrügern wurden.

Einen Seitenhieb auf den Staatsanwalt konnte sich Rabe nicht verkneifen, der sich bei seinem harten Strafantrag auf die Rechtstreue berief, die mit einer Haftstrafe untermauert werden müsse. Polizei und Staatsanwaltschaft sollten sich in Sachen Rechtstreue lieber an die eigene Nase fassen und auch gegen die Hintermänner des Betrugs ermitteln, denen nicht nur seine Mandantin zum Opfer gefallen ist. „Aber das ist ihnen zu kompliziert.“

Das Urteil verkündet die 8. Strafkammer des Landgerichts Stuttgart am morgigen Dienstag, 22. Oktober.

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Erstellt:
21. Oktober 2019, 06:00 Uhr

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