Im Dienst einer lebendigen Erinnerung

Leben auf dem Land Werden Traditionen, Riten und Bräuche im Ländlichen noch stärker gepflegt? Engagierte in Sachen Erinnerungsarbeit machen deutlich, dass Geschichte auch im Dorf ein großes Spannungsfeld aufmacht und doch manche Werte der heutigen Welt guttun würden.

Karl-Heinz Häusser (links) und Jürgen Hestler beschäftigen sich im Heimatmuseum in Weissach im Tal auch mit nachhaltigem Wirtschaften aus früherer Zeit, zum Beispiel mit dem Einmachen von Lebensmitteln – eine Facette, die auch heute zur Nachhaltigkeitsdiskussion passt. Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Karl-Heinz Häusser (links) und Jürgen Hestler beschäftigen sich im Heimatmuseum in Weissach im Tal auch mit nachhaltigem Wirtschaften aus früherer Zeit, zum Beispiel mit dem Einmachen von Lebensmitteln – eine Facette, die auch heute zur Nachhaltigkeitsdiskussion passt. Foto: A. Becher

Von Christine Schick

Weissach im Tal/Murrhardt. Jürgen Hestler hat eingeheizt in der guten Stube des Bauern- und Heimatmuseums Weissacher Tal. Er und Karl-Heinz Häusser engagieren sich im Heimatverein, der auch die Aktivitäten und Angebote in dem über 230 Jahre alten Haus bündelt. Was die Stichworte Traditionen, Bräuche und Riten anbelangt, sind sie allerdings skeptisch, dass sich da etwas ausmachen lässt, was das dörfliche Leben heute noch prägt. „Die Globalisierung macht auch vor den Dörfern nicht halt“, sagt Jürgen Hestler. Eine Wiederbelebung ursprünglicher Bräuche empfänden sie als aufgesetzt, gleichzeitig fühlen sie sich einer lebendigen, kritischen Erinnerungsarbeit jenseits von Heimattümelei verpflichtet. „Ich bin direkt gegenüber geboren“, sagt Häusser und kam zum Verein, weil er noch eine Menge über die Geschichte des Dorfes weiß. „Mein Großvater hat mir viel erzählt.“ Auch Jürgen Hestler wohnt ganz in der Nähe, kennt das dörfliche Leben – wenn auch von der Schwäbischen Alb, wo er aufgewachsen ist.

Ausspionieren im Dritten Reich stand gegenseitiger Alltagshilfe gegenüber

Karl-Heinz Häusser weiß um die Bruchlinien und Widersprüchlichkeiten solch eines Zusammenlebens. Angefangen von der sozialen Kontrolle bis hin zum gegenseitigen Ausspionieren im Dritten Reich bei einem gleichzeitigen Aufeinander-angewiesen-Sein und gegenseitiger Hilfe im Alltag. Er verließ das Dorf, studierte, kehrte später mit seiner französischen Frau wieder zurück. All das ermöglicht ihm auch einen kritischen Blick, den sich letztlich aber jeder selbst erarbeiten müsse, sagt er. Genauso möchte Jürgen Hestler die Arbeit im Heimatverein Weissacher Tal mit Weltoffenheit verbinden. Im Sommer plant er eine Art Erzählabend, zu dem Einheimische genauso wie Menschen eingeladen sind, die beispielsweise als Gastarbeiter oder Flüchtlinge hierhergekommen sind. „Wir möchten den Heimatbegriff rechtsextremen Demokratiefeinden entziehen“, sagt Hestler. „Gleichzeitig gibt es auch ein zunehmendes Bedürfnis und eine Sehnsucht nach Zugehörigkeit.“

Letztlich geht das für die beiden aber nicht in formaler Traditionspflege auf, vielmehr heißt es für sie, genau hinzuschauen. „Faszinierend finde ich die Geschichte vom Mader, der als Außenseiter, Atheist und Lebenskünstler hier im Dorf toleriert war“, sagt Hestler. Bei der Pflege der Geschichten und Geschichte kommen für das Vereinsteam beispielsweise auch die Weinbautradition, altes Handwerk, Dialekt und generationsübergreifende Gespräche und Aktionen zum Tragen.

Neben den Grautönen zeigen sich dabei auch Gewohnheiten und Werte, die in der heutigen Welt wertvoll sind beziehungsweise sein könnten und manchmal mühsam reinstalliert werden müssen. Wie beispielsweise nachhaltiges Wirtschaften, Achtung vor Lebensmitteln und der Natur, Selbstversorgung, Wiederverwertung von Rohstoffen und Solidarität in der Gemeinschaft, so Hestler. „Werte, an die wir erinnern möchten.“ Karl-Heinz Häusser fällt dazu beispielsweise eine alleinlebende Frau ein, die für die Dorfbewohner auf einem Hobel Kraut schnitt, sodass es später eingemacht werden konnte. So hielt sie sich über Wasser und die Gemeinschaft half dabei mit, indem sie diese Arbeit in Anspruch nahm. Im Keller stehen noch etliche Gläser mit eingemachten Früchten und Gemüsesorten von Frieda Heller geborene Grübele, der letzten Bewohnerin des alten Hauses und heutigen Heimatmuseums. Eingemachtes ist haltbar Gemachtes, muss nicht in den Kühlschrank – eine Facette, die zur Nachhaltigkeits- und Klimaschutzdiskussion passt. Hestler macht klar, dass die Menschen damals arm waren und ums Überleben kämpften. Selbstversorgung beispielsweise über den eigenen Garten war schlichtweg notwendig. Kochen nach alten Rezepten gehört ebenso zu den Aktionen des Vereins, er stellt aber auch fest: „Eicheleskaffee schmeckt fürchterlich“ (als Ersatz für echten). Auch das Wissen um natürliche Kreisläufe beispielsweise in der Nutztierhaltung findet er wichtig.

Gerhard Fritz, Historiker aus Murrhardt, berichtet, dass es bereits um 1900 eine Umfrage zu noch existierenden Bräuchen und Riten in der Region gab. „Auf den Höhen des Welzheimer Waldes war noch einiges vorhanden, je näher man Backnang, Waiblingen und schließlich Stuttgart kam, je mehr verlor sich das aber“, sagt er. „Die Industrialisierung entzieht dem immer mehr den Boden, ist letztlich der Killer solcher Traditionen.“ Mühlenbauer Eberhard Bohn aus Kirchenkirnberg habe das Gebiet beackert, viele mündliche Überlieferungen und Geschichten zusammengetragen und festgehalten. Auch die Murrhardter Autorin Astrid Fritz bis hin zu den Gebrüdern Grimm ließen sich in dieser Linie sehen. Vorhanden sei aber so gut wie nichts mehr.

Was im ländlichen Raum teils aber doch noch gepflegt wird, ist die Sichelhenke und die Erntedankfesttradition. „Der Oktober war mit vielen Festen angefüllt, da war die Arbeit auf dem Feld vorbei.“ Auch Weihnachten und Ostern sind als Feste noch präsent, wenn auch nicht mehr generell kirchlich ausgeformt. Apropos Kirche – Gerhard Fritz erinnert daran, dass evangelische und katholische Gemeinden auch von den Traditionen her unterschiedlich geprägt waren, der Karneval beispielsweise in einer katholischen Enklave wie Oppenweiler mit den Herren Sturmfeder kultiviert wurde. „Auch der Liederkranz in Murrhardt hat Faschingsfeste später wiederaufgenommen.“ Die pietistische Tradition scheint indes sehr stark mit dem Arbeitsethos verbunden. „Sie müssen da immer den Eindruck erwecken, beschäftigt und kein Müßiggänger zu sein.“

Traditionsreiche Feste stärken auch heute noch das soziale Miteinander

Eberhard Bohn könnte viel erzählen, was lokale Geschichten anbelangt. Eine Tradition, die ihm spontan einfällt und heute noch gepflegt wird, ist der Gaildorfer Pferdemarkt als regionales Event rund um die edlen Rösser und das Landleben. Auch wenn Bräuche meist abgebrochen sind, nutzen die Menschen das Fest als Möglichkeit, die Gemeinschaft und das soziale Miteinander zu stärken – auch heute noch. „Bei uns gibt es das Bädlesfest, bei dem sich viele Kirchenkirnberger treffen“, sagt er. Auch die neu Zugezogenen, die sich im Neubaugebiet ein Eigenheim geschaffen haben, seien eingeladen, und einige hätten dies auch genutzt. Und er hat Bekannte, die noch 30 Jahre nach ihrem Wegzug gerne zum traditionellen Salzkuchenfest vorbeischauen. Auch christliche Traditionen sind für ihn noch nicht völlig verblasst: Murrhardt hatte lange Zeit eine Wallfahrt zur Walterichskirche und zu Ostern wird an Karfreitag auch heute noch der Ölberg (Holzkunstschnitzwerk zur Passionsgeschichte) geöffnet – und hat seine Besucher, so Bohn. Unsentimental stellt er genauso fest: „Auf dem Dorf gab es immer auch Streit.“ Bliebe zu erzählen, was war und ist, den Dialekt zu pflegen und all das ohne erhobenen Zeigefinger. Dem fühlen sich auch Jürgen Hestler und Karl-Heinz Häusser verpflichtet. „Letztlich unterliegt alles dem Zeitgeist und im Nachhinein zu urteilen ist leicht“, so Häusser.

In der Serie „Leben auf dem Land“ beleuchten wir verschiedene Aspekte des dörflichen Lebens in unserer Region genauer.

Im Dienst einer lebendigen Erinnerung

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„Je näher man Backnang kam, je mehr verlor sich das. Die Industrialisierung ist der Killer solcher Traditionen.“

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Erstellt:
5. Februar 2022, 06:00 Uhr

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