Im Raureif auf der Lauer

Mit effektiven Drückjagden soll die Ausbreitung der Afrikanischen Schweinepest eingedämmt werden. Zwischen Oppenweiler und Murrhardt waren am Wochenende die Jäger der örtlichen Reviere im Einsatz – unter strengen Hygienevorschriften.

Letzte Instruktionen: Forstbezirksleiter Martin Röhrs (rechts) tauscht sich noch einmal mit Vincenzo De Pilla aus, bevor es auf den Hochsitz geht.

© Jörg Fiedler

Letzte Instruktionen: Forstbezirksleiter Martin Röhrs (rechts) tauscht sich noch einmal mit Vincenzo De Pilla aus, bevor es auf den Hochsitz geht.

Von Ute Gruber

OPPENWEILER/MURRHARDT. Der erste richtig winterliche Morgen in diesem Herbst: Raureif auf Wiesen und Dächern, der Wald eine Zuckerlandschaft. Was zieht man da am besten an, zur Jagdeinladung? Modische Fragen sind zweitrangig – Hauptsache warm! Strumpfhose drunter, Rolli, Wollpullover und Daunenjacke. Schal um den Kopf – und halt: Handschuhe nicht vergessen! Deren erster Einsatz dieses Jahr, neulich hatten wir noch 20 Grad. Verrücktes Jahr.

Gesellschaftsjagd in Coronazeiten – geht das überhaupt? Ein Auflauf von 100 Jägern im Staatswald, dazu die obligatorischen Treiber, die mit den Hunden zusammen das Wild aufscheuchen? Andererseits sei gerade jetzt die Dezimierung des Wilds besonders wichtig, heißt es: zum Schutz der hoffnungsvollen Jungpflanzen vor Rehverbiss einerseits, denn die Bäumchen, die jetzt aufwachsen, sollen besser an die neuen Klimabedingungen angepasst sein als die unzähligen kapitalen Opfer, die Hitze und Dürre der letzten Jahre dahingerafft haben. Und andererseits gibt es seit zwei Jahren einen hochoffiziellen Auftrag an die deutschen Jäger, den Wildschweinbestand zu dezimieren, um die Ausbreitung der Afrikanischen Schweinepest einzudämmen. Diese hat im September nun doch die Grenze von Polen nach Brandenburg überschritten und bedroht jetzt die Existenz deutscher Mastschweinebetriebe. Großabnehmer China hat bereits einen Importstopp für deutsches Schweinefleisch erlassen.

In dieser Zwangslage hat das Landwirtschaftsministerium die effektiven Drückjagden mit bis zu 100 Teilnehmern zugelassen – als jagdbetriebliche Maßnahme wohlgemerkt, nicht als gesellschaftliches Event. Ohne Brimborium, nur das schnörkellose Waidhandwerk: schießen, aufbrechen, heimgehen. Keine fröhliche, gemeinsame Eröffnung mit großem Hallo unter den teils weit hergereisten Jägersleuten, kein abschließendes Streckelegen der Ausbeute und Verteilen der Innereien mit feierlichem Jagdhornblasen für jede Wildart – Blasmusik geht in Coronazeiten ja schon gar nicht – und kein geselliges Schüsseltreiben mit Wildgulasch und Jägermeister in der gemütlichen Jagdhütte.

Schützen aus anderen Revieren waren nicht zugelassen.

„Hygienemaßnahmen haben Vorrang vor Jagdtraditionen“, stellt Martin Röhrs klar und macht sich unter den Jägern damit nicht nur Freunde. Auch hat er die Anzahl der Teilnehmer je Trieb sogar auf 50 begrenzt. Als Leiter des neu gebildeten staatlichen Forstbezirks Schwäbisch-Fränkischer Wald ist er verantwortlich für die Gemeinschaftsjagden im Staatswald des Rems-Murr-Kreises, elf hat er für diese Saison geplant. Er will kein Risiko eingehen.

Dieses Jahr ist alles anders. Sicherheitsbelehrung und detailliertes Hygienekonzept hat Röhrs gleich mit der Einladung verschickt. Externe Gäste, die sonst traditionellerweise sogar aus Rheinland-Pfalz und Brandenburg anreisen, mussten wieder ausgeladen werden. Nur Jäger aus den örtlichen Revieren sind erlaubt, ihre Daten sind bekannt und ein sogenanntes Drückjagden-Hopping besonders eifriger Schützen soll wegen des Ansteckungsrisikos vermieden werden. Ansonsten gelten die bekannten Hygieneregeln.

Der Reichenberger Revierleiter Hans-Joachim Bek hat daher für heute zehn kleine Gruppen eingeteilt, die sich gleich vor Ort an den jeweiligen Wanderparkplätzen treffen. Eine Gruppe trifft sich oben auf der Höhe am Springstein: Roman Frank, Martin Röhrs und Vincenzo De Pilla mit seiner Alpenländischen Dachsbracke Loki. Loki mit seiner hervorragenden Spürnase soll später bei der Nachsuche helfen und sich deshalb mit seinen kurzen Beinen nicht schon als Treiber verausgaben. Jetzt winselt er erwartungsvoll und bekommt seine signalfarbene Arbeitsweste übergezogen, die ist mit Telefonnummer und Sender versehen – falls er im Eifer des Gefechts abhandenkommt – und außerdem schnittfest. Das soll ihn vor den messerscharfen Hauern der Keiler schützen. Schussfest ist sie nicht – da muss der Jäger schon selbst aufpassen. Ab jetzt heißt es leise sein, kein Türenschlagen der Autos, nur gedämpfte Unterhaltung. Trotz der großräumigen Absperrung mit dem – wahrlich todernst gemeinten – Warnhinweis „Treibjagd – Lebensgefahr!“ fährt ein Auto vorbei: „Ist das ein Jäger?“, fragt jemand. „Das Auto ist so sauber.“

Röhrs kontrolliert noch die Jagdscheine der Männer und weist sie ein, dann schultert jeder sein Gewehr und erklimmt seinen Hochsitz. Erst die gelben Lärchennadeln vom bemoosten Sitz ge-wischt, dann Tante Martha gutes, wollenes Rheumakissen aufgelegt. Eine Vliesdecke um die Beine gewickelt – und jetzt zweieinhalb Stunden still sitzen in der Kälte. Der betagte kleine Jagdterrier Tobi wuselt derweil hektisch schnüffelnd um den Hochsitz herum. „Fein, Tobi“, ermuntert ihn sein Herrchen, „voran!“

In der Wildkammer bei Steinbach werden die bei der Drückjagd erlegten Rehe und Wildschweine ausgenommen. Fotos: J. Fiedler

© Jörg Fiedler

In der Wildkammer bei Steinbach werden die bei der Drückjagd erlegten Rehe und Wildschweine ausgenommen. Fotos: J. Fiedler

Vom Nachbarrevier Siebenknie herüber schallt’s laut „Heho! Ejah!“, dazu das aufgeregte Kläffen der Hunde, für die heute sicher der beste Tag der Woche ist. In der Ferne fallen immer wieder Schüsse. Ein Vogel ruft laut, „ein Schwarzspecht“, wispert der Förster. Dann deutet er auf eine Kuhle im Laub: „Da lag heute Nacht ein Reh. Vielleicht haben wir Glück und es kommt zurück. Rehe sind ortstreu.“ Für das Reh wäre es Pech.

Langsam werden die Füße kalt, aber der Sitz ist mollig warm – ein Hoch auf Tante Martha! Tobi kommt zurück: Nichts gefunden, er stöbert weiter. Die Sonne steigt über die Wipfel. Die atemlosen Treiber in ihren signalfarbenen Jacken kommen vorbei: „Wie sieht’s aus? Drüben haben sie einen starken Keiler erlegt, eine Jungsau und einige Rehe!“ Hier nur tote Hose. Vielleicht haben wir zu viel geredet? Doch dann wahrhaftig um fünf vor zwölf bewegt sich plötzlich etwas hinter den Bäumen. Mit einem Mal hoch konzentriert zieht Röhrs langsam das Gewehr hoch und legt an. Der Lauf folgt dem Reh, das Richtung Süden wandert. Dann dreht es ab. Das war’s. „Hahn in Ruh“, würden die Hörner jetzt blasen. Aber heute hat man dafür eh ein Handy.

Die erlegten Tiere werden markiert und an den Wegrand gezogen, ein Bergetrupp sammelt sie ein und transportiert sie zur Wildkammer bei Steinbach. In diesem perfekt eingerichteten, hygienischen Schlachthäuschen mit Kühlraum kann der erlegte 90-Kilo-Keiler bequem mit dem Flaschenzug hochgezogen werden, die leichten Rehe dagegen werden in der kühlen Wintersonne an ein Holzgestell gehängt, aufgebrochen und ausgenommen. Auch diese obligatorische Jägeraufgabe erledigt heute nur ein festgelegtes Grüppchen aus Oppenweiler. Alles anders dieses Jahr.

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Erstellt:
23. November 2020, 06:00 Uhr

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