In der Fremde fand er richtig gute Freunde

Wir schaffen das! Tatsächlich? (8): Miraqa Naziri gehört zu den Menschen, die 2015 als Minderjährige unbegleitet nach Deutschland einreisten. Heute bestreitet er seinen Lebensunterhalt selbst und lebt in einer Mietwohnung in Kirchberg.

Miraqa Naziri kam als unbegleiteter minderjähriger Ausländer nach Backnang und absolviert mittlerweile eine Ausbildung. Jochen Schneider (links) vom Verein Kubus war sein Vormund. Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Miraqa Naziri kam als unbegleiteter minderjähriger Ausländer nach Backnang und absolviert mittlerweile eine Ausbildung. Jochen Schneider (links) vom Verein Kubus war sein Vormund. Foto: A. Becher

Von Ingrid Knack

KIRCHBERG AN DER MURR. Miraqa Naziri ist einer von Hunderttausenden Menschen aus unterschiedlichsten Ländern, die im Jahr 2015 in Deutschland eine Zuflucht suchten. Damals war er 16 Jahre alt und hatte sich vollkommen alleine von Afghanistan aus auf den beschwerlichen Weg in ein unbekanntes Land gemacht. Anfangs bezeichnete man junge Menschen wie ihn als unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (kurz: Umf), jetzt spricht man von unbegleiteten minderjährigen Ausländern (Uma).

Die Familie des heute 21-Jährigen lebt noch in Afghanistan. Auch seine drei Brüder und seine Schwester. Warum er seine Heimat verließ, darüber will er nicht sprechen. Jochen Schneider vom Verein Kubus, der bis zu Naziris 18. Geburtstag dessen Vormund war und ihn als extrem zielstrebig beschreibt, erzählt aber: „Miraqa hat einen Antrag auf Asyl gestellt und bekam im April 2017 nach seiner Anhörung in Ellwangen sofort einen Aufenthaltstitel von drei Jahren.“ Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) hat seinen Fluchtgrund also sofort anerkannt. Auch die Verlängerung des Aufenthaltstitels drei Jahre später hatte er schnell in der Tasche. Der nächste Schritt wäre nun eine Niederlassungserlaubnis, die einem unbefristeten Aufenthaltstitel entspricht.

Miraqa Naziri ist zutiefst dankbar über die Chancen, die er in Deutschland bekommen hat. Das sagt er immer wieder. Mittlerweile lebt er in einer Mietwohnung in Kirchberg an der Murr und macht eine Ausbildung zum Elektroniker für Geräte und Systeme bei Lorch Schweißtechnik in Auenwald. Nun kann er sich ohne fremde Hilfe einiges leisten. „Ich hatte richtig Glück, welche Leute ich getroffen habe“, sagt er.

Als Naziri am 17. November 2015 in Frankfurt am Main ankam und kurz darauf nach Gießen in die dortige Aufnahmestelle für unbegleitete minderjährige Ausländer gebracht wurde, sprach er noch kein Deutsch. Wenn man ihn heute reden hört, kann man sich kaum vorstellen, dass der junge Mann erst rund fünf Jahre in Deutschland lebt. Die ihm zunächst komplett fremde Sprache hat er sich weitgehend selbst beigebracht – der Google-Übersetzer erwies sich dabei als äußerst hilfreich. Naziris Muttersprache ist Paschto. Rund 49 Sprachen und über 200 Dialekte werden in seiner Heimat gesprochen. 1964 sind Persisch (Dari) und Paschto als offizielle Landes- und Regierungssprachen festgelegt worden. Dari ist die Mehrheitssprache in Afghanistan.

Der Mönchhof wurde als Inobhutnahmestelle eingerichtet.

Von Gießen aus wurden die unbegleiteten minderjährigen Ausländer auf die Bundesländer verteilt. Naziris Reise ging kurz vor Weihnachten 2015 nach Kaisersbach, wo im Dezember 2015 im Mönchhof von jetzt auf gleich eine Inobhutnahmestelle aus dem Boden gestampft worden war. Die Flüchtenden, die mit ihm im Bus saßen, kannte er schon aus Gießen. Naziri spricht sogar von Freunden, die er dort kennengelernt hatte und die nun weiterhin an seiner Seite waren. Naziri gehörte zu den Ersten, die im Mönchhof eine vorübergehende Bleibe fanden. Das vom Landkreis normalerweise als Schullandheim betriebene Haus war in den Hochzeiten mit bis zu 52 jungen Menschen belegt.

Schon allein die Lage des Mönchhofs, die auf dessen Homepage als „landschaftlich schön und ruhig am Waldrand nahe des Ortsteils Mönchhof der Gemeinde Kaisersbach“ beschrieben wird, hatte aber das Potenzial, bei den jungen Menschen ein ungutes Gefühl in der Magengrube hervorzurufen. Naziri: „Bei der Ankunft haben wir gesehen, dass dort nur Wald ist.“ Manche Geflüchtete hätten ursprünglich geglaubt, in eine Großstadt wie Stuttgart zu kommen. Der einsam gelegene Ort löste bei diesen zunächst einmal eine Art Schock aus. Naziri dagegen dachte sich: „Ja, okay, wir haben schwierige Zeiten, aber das wird auch irgendwann irgendwie vorbei sein. Nach zwei bis drei Wochen haben wir uns daran gewöhnt. Dann irgendwann hat es echt Spaß gemacht.“

Jochen Schneider erinnert sich an so manche schwierige Situation. „Abends wurde immer durchgezählt.“ Dass Bewohner fehlten, kam durchaus vor. Die Folge: Die Polizei wurde informiert. Wenn Minderjährige, die sich ja in der Obhut des Jugendamts befanden, einfach ausbüxten, musste eben sofort gehandelt werden. Auch Security war im Mönchhof im Einsatz. „Bei über 50 Jungs konnte es auch ein bisschen hitzig werden“, weiß Jochen Schneider.

Schnell wurde Miraqa Naziri vom Betreuten zum Helfer. Jochen Schneider: „Damals gab es keinen Dolmetscher. Miraqa war einer der wenigen, die Englisch sprechen konnten.“ Deshalb wurde er als Übersetzer eingespannt. Parallel dazu verbesserte er seine Deutschkenntnisse und gab auch an die anderen Bewohner sein Wissen weiter. Bald fanden sich obendrein Ehrenamtliche aus Kaisersbach für Deutschkurse. Die Tage hatten damit eine Struktur. Naziris Ziel war es, jeden Tag 50 bis 100 Wörter zu lernen. Dabei orientierte er sich meist an den Dingen, die er bald brauchen würde. Auf die Frage, ob er ein Beispiel nennen könne, sagt er schmunzelnd mit Blick auf seine Wohnungseinrichtung: „Sofa.“

Das Schicksal wollte es, dass im Mönchhof völlig ungeplant die Fäden für die weitere Zukunft Naziris gesponnen wurden. Denn nach der Zeit in Kaisersbach wurde der Afghane von der fünfköpfigen Kirchberger Familie Wright aufgenommen. Andrea Wright, Mutter von drei Kindern im Alter von damals 13, 16 und 18 Jahren, hatte im Mönchhof als pädagogische Fachkraft gearbeitet.

Als es ans Abschiednehmen vom Mönchhof ging, spielten sich herzzerreißende Szenen ab. „Als wir gegangen sind, hat jeder geweint“, versichert Naziri. „Am Anfang wollten wir nicht da reinkommen, am Ende wollten wir nicht wieder raus.“ Schneider ergänzt: „Es war ein Durchschnaufen für alle. Dort waren Leute, die Ähnliches durchgemacht haben. Wenn man mal einen Durchhänger hatte, musste man nichts erklären.“

Schulzeit verlief ohne Probleme.

Auch von seiner Zeit bei den Wrights spricht Naziri nur gut. „Ich habe coole Sachen erlebt. Die Familie war richtig gut, richtig sympathisch. Ich habe mich gar nicht fremd gefühlt.“ Für Andrea Wright gehört Naziri auch nach seinem Auszug noch zur Familie.

Wenn Miraqa Naziri so an die Familien in Afghanistan denkt, was läuft hier anders? „Die Freiheiten sind größer“, sagt er. Gewöhnungsbedürftig war für ihn allerdings, dass er im Ramadanmonat als Einziger die Fastenzeiten einhielt.

Problemlos verlief für Naziri ebenso die Schulzeit. Von der Vorbereitungsklasse in Schorndorf bis hin zum Realschulabschluss in Sulzbach. Und: „Die meisten, die ich kenne von früher, sind in Ausbildung“, weiß er. Doch nicht alle, die wie Naziri nach Deutschland gekommen sind, stehen so gut da wie der Neu-Kirchberger. Schneider: „Ich kenne auch Jugendliche, die in Stammheim sind.“

Miraqa Naziri indes setzt sich schon die nächsten Ziele. Er könnte ja später den „Meister oder Techniker“ machen, überlegt er. Und nebenbei einen Modeljob, das würde ihm ebenfalls liegen.

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Erstellt:
28. November 2020, 06:00 Uhr

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