Jobcenter will Beratung auf Augenhöhe

„Hartz IV“ war für viele ein Synonym für Armut und soziale Kälte. Mit der Einführung des neuen Bürgergelds verspricht die Bundesregierung den Leistungsempfängern mehr Respekt. Im Jobcenter des Rems-Murr-Kreises wird das in die Praxis umgesetzt.

Berufsberatung bei der Agentur für Arbeit: Jugendliche, die in einem Haushalt mit Bürgergeld-Bezug leben, dürfen von ihrer Ausbildungsvergütung nun jeden Monat 520 Euro behalten.Symbolbild: Agentur für Arbeit

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Berufsberatung bei der Agentur für Arbeit: Jugendliche, die in einem Haushalt mit Bürgergeld-Bezug leben, dürfen von ihrer Ausbildungsvergütung nun jeden Monat 520 Euro behalten.Symbolbild: Agentur für Arbeit

Von Kornelius Fritz

Rems-Murr. Fernsehdokus, in denen Empfänger von Sozialleistungen das Leben auf Staatskosten genießen und um alles, was nach Arbeit aussieht, einen großen Bogen machen, schaut sich Karsten Bühl schon lange nicht mehr an. „Ich ärgere mich darüber, denn eine solche Darstellung wird dem Großteil der Bürgergeldbezieher nicht gerecht“, sagt der Geschäftsführer des Jobcenters Rems-Murr. In seiner täglichen Arbeit trifft Bühl nur selten Menschen, die keine Lust auf Arbeit haben, dafür sehr viele, die mit Problemen zu kämpfen haben: Krankheit, Verschuldung, Sucht. Ihnen wieder eine berufliche Perspektive zu bieten, sieht er als zentrale Aufgabe des Jobcenters.

Seit der Einführung des neuen Bürgergeldes lässt sich dieser Auftrag nach seinem Eindruck noch besser erfüllen. „Aus meiner Sicht wurden bei dieser Reform die richtigen Akzente gesetzt“, sagt Bühl. Seine Aussage bezieht sich dabei weniger auf die Höhe der Regelsätze, die aus Sicht von Sozialverbänden noch immer zu niedrig sind, als auf die neuen Spielregeln für die Arbeitsvermittlung, die seit 1. Juli gelten.

An die Stelle von Zwang und der Drohung mit Sanktionen sei nun eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe getreten, sagt Bühl. „Durch die Reform haben wir neue Instrumente, um Betroffene niederschwellig zu unterstützen und an die Hand zu nehmen.“ Als Beispiel nennt Bühl den neuen Kooperationsplan, den das Jobcenter bis Jahresende mit allen arbeitsfähigen Bürgergeldempfängern abschließen muss. In einem Gespräch mit den Leistungsbeziehern werden darin gemeinsame Ziele vereinbart. Nicht immer muss es dabei sofort um die Aufnahme einer Beschäftigung gehen. Auch ein Sprachkurs oder der Besuch bei einer Sucht- oder Schuldnerberatung können dort festgeschrieben werden.

Sanktionen gibt es nur noch in Ausnahmefällen

Besteht größerer Unterstützungsbedarf, kann das Jobcenter auch Coaching-Gutscheine ausstellen. Damit können die Betroffenen zu verschiedenen Sozialunternehmen im Landkreis gehen und sich einen persönlichen Betreuer an die Seite stellen lassen, der sie auch zu Hause besucht oder bei einem Behördengang begleitet. Selbst in der Anfangsphase einer Beschäftigung kann der Coach noch unterstützen. Denn gerade bei Menschen, die länger arbeitslos waren, verläuft der Wiedereinstieg ins Berufsleben oft recht holprig.

Anders als bisher erfolgt das alles auf freiwilliger Basis und ohne Androhung von Strafmaßnahmen. In der Vergangenheit hatte es immer wieder Berichte über Arbeitslose gegeben, die vom Jobcenter zu sinnlosen Weiterbildungskursen geschickt wurden oder aussichtslose Bewerbungen schreiben mussten. Taten sie es nicht, wurden ihnen die Leistungen gekürzt.

Karsten Bühl: „Durch die Reform haben wir neue Instrumente, um Betroffene niederschwellig zu unterstützen und an die Hand zu nehmen.“ Foto: Agentur für Arbeit

Karsten Bühl: „Durch die Reform haben wir neue Instrumente, um Betroffene niederschwellig zu unterstützen und an die Hand zu nehmen.“ Foto: Agentur für Arbeit

Damit soll nun Schluss sein, was Karsten Bühl begrüßt: „Die Idee, Menschen mit Zwang auf die Spur zu bringen, sehe ich kritisch.“ Die Möglichkeit, Leistungsempfängern, die Termine nicht wahrnehmen oder Qualifizierungsmaßnahmen grundlos abbrechen, das Bürgergeld zu kürzen, gibt es aber auch weiterhin. Bühl hält das auch für richtig, in der Praxis mache man davon aber nur sehr selten Gebrauch. Schon in den Zeiten von Hartz IV habe die Sanktionsquote im Rems-Murr-Kreis bei unter einem Prozent gelegen.

Einen weiteren großen Vorteil der Bürgergeld-Reform sieht Christine Käferle, Leiterin der Agentur für Arbeit in Waiblingen, darin, dass das Thema Qualifizierung nun stärker im Fokus steht. Die langfristige berufliche Perspektive ist dabei wichtiger als eine kurzfristige Vermittlung in Arbeit. Deshalb werden Leistungsbezieher, die sich für eine Ausbildung oder eine Umschulung entscheiden, mit einem Weiterbildungsgeld von bis zu 150 Euro im Monat belohnt. Bei Menschen unter 25 Jahren, die zum Beispiel in einer Bedarfsgemeinschaft mit ihren Eltern leben, wird die Ausbildungsvergütung bis zu einer Höhe von 520 Euro nicht mehr auf das Bürgergeld angerechnet.

Karsten Bühl hält das für ein wichtiges Signal an die jungen Leute, dass sich eine Ausbildung lohnt – auch finanziell. Mit Blick auf die langfristigen Perspektiven sowieso. „Bei denen, die einen Berufsabschluss haben, liegt die Arbeitslosenquote im Rems-Murr-Kreis aktuell bei zwei Prozent, bei Menschen ohne Qualifikation bei 13 Prozent“, macht Christine Käferle deutlich. Eine gute Ausbildung ist also auch der beste Schutz vor Arbeitslosigkeit.

Finanzierung trotz Etatkürzung vorerst gesichert

Seit Anfang Juli ist das neue Gesetz nun in Kraft und Karsten Bühl ist mit der Umsetzung zufrieden. „Eine solche Umstellung ist natürlich mit Aufwand verbunden, aber die Resonanz ist positiv.“ Dass die angestrebte Zusammenarbeit auf Augenhöhe funktioniert, zeigt sich für ihn auch daran, dass das neue Schlichtungsverfahren, das für Streitfälle zwischen Leistungsbeziehern und Jobcenter vorgesehen ist, im Rems-Murr-Kreis bislang noch kein einziges Mal nötig war.

Getrübt wird die gute Stimmung allerdings von den angekündigten Etatkürzungen durch die Bundesregierung. Im Haushaltsplanentwurf für 2024 sind für die Jobcenter rund 700 Millionen Euro weniger eingeplant als im laufenden Jahr. Gefährdet das am Ende auch die Bürgergeldreform?

Karsten Bühl beruhigt: „Zum jetzigen Zeitpunkt scheitert keine notwendige Maßnahme am Budget“, sagt er und geht davon aus, dass das auch für 2024 gilt. Das Jobcenter Rems-Murr sei als eines der größten in Baden-Württemberg allerdings auch finanziell vergleichsweise gut ausgestattet.

Bürgergeld

Anspruch Bürgergeld ist eine Sozialleistung, die aus Steuermitteln finanziert wird. Bürgergeld erhalten Menschen, die erwerbsfähig sind, ihren Lebensunterhalt aber nicht aus eigenem Einkommen decken können. Der Regelsatz für Alleinstehende liegt aktuell bei 502 Euro pro Monat, zum 1. Januar 2024 steigt er auf 563 Euro.

Leistungsbezieher Im Rems-Murr-Kreis bezogen im August insgesamt 14673 Personen Bürgergeld. Das ist ein historischer Höchststand. Hauptgrund für den deutlichen Anstieg im vergangenen Jahr ist der Zuzug von Kriegsflüchtlingen: Rund 2700 Leistungsbezieher stammen aus der Ukraine.

Arbeitslose Von den Bürgergeldbeziehern gelten derzeit 5254 als arbeitslos. 9419 Personen können gerade nicht arbeiten, da sie zum Beispiel einen Integrationskurs oder eine Weiterbildungsmaßnahme besuchen. Auch Kinder befinden sich darunter.

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Erstellt:
14. September 2023, 06:00 Uhr

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