Jugendgericht Backnang: 100 Jahre Strafrecht für Jugendliche

1923 trat das Reichsjugendgerichtsgesetz in Kraft. Seitdem basiert das Jugendstrafrecht auf dem Gedanken „Erziehung vor Strafe“. Es gibt eine Dualität von Justiz und Sozialpädagogik: Jugendgericht und Jugendgerichtshilfe in Backnang berichten von ihrem vielschichtigen Thema.

Einsperren oder erziehen? Jugendgerichte fragen danach, welche Begrenzung für junge Straftäter sinnvoll ist. Foto: stock.adobe.com/Jan H. Andersen

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Einsperren oder erziehen? Jugendgerichte fragen danach, welche Begrenzung für junge Straftäter sinnvoll ist. Foto: stock.adobe.com/Jan H. Andersen

Von Nicola Scharpf

Backnang. Noch bevor er strafmündig wird, lässt sich A.A. schon eine Reihe von mittelschweren Delikten zuschulden kommen: Diebstähle, Beleidigungen, Körperverletzungen. Der Jugendliche aus dem Rems-Murr-Kreis landet bei den Behörden auf der Liste der Intensivtäter. In der Schule gibt es ständig Probleme, dann besucht A.A. die Schule gar nicht mehr. Falk Auktor, Leiter der Jugendgerichtshilfe in Backnang, die beim Kreisjugendamt angesiedelt ist, beschreibt ihn als „rotzigen bis aggressiven 13-Jährigen, der sofort in den Kampfmodus geht“. Seine Eltern sind ratlos, resigniert und zögerlich darin, Hilfe vom Jugendamt anzunehmen. Auch A.A. lässt sich freiwillig auf nichts ein, was ihm an Hilfe angeboten wird – bis der Familie ein Erziehungsbeistand zur Seite gestellt wird, auf den sich der Jugendliche gut einlässt. Das Begehen der Straftaten stuft das Amt ein als „dysfunktionale Versuche, sich von der Familie zu lösen“, so Auktor. Aufgrund der Beziehungsdynamik in der Familie ist der mittlerweile 15-Jährige nun stationär in einer Jugendhilfemaßnahme untergebracht und besucht wieder die Schule. Auktor: „Es kommt nichts Neues an Delikten hinzu und das ist für uns der zentrale Punkt.“

Noch vor 100 Jahren wäre die Justiz mit A.A. anders verfahren: mit blinder Härte. Das Reichsjugendgerichtsgesetz von 1923 brach dann mit der rabiaten Rechtstradition, Kinder und Jugendliche nach denselben Paragrafen zu bestrafen und in dieselben Gefängnisse zu sperren wie Erwachsene. Parallel wurde das erste Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt beschlossen, nach dem jedes Kind ein Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit besaß. Das Reichsjugendgerichtsgesetz trug bereits die Grundzüge des heutigen Jugendgerichtsgesetzes, das darauf abzielt, dass Erziehung und Strafe den jungen Delinquenten bessern und so die Gesellschaft vor weiteren Straftaten schützen soll.

„Unser Ziel muss sein, dass die Jugendlichen die Kurve kriegen“

Diesen Grundsatz in der Praxis anzuwenden, ist eine anspruchsvolle, besondere und vielschichtige Aufgabe. Anders als im Erwachsenenstrafrecht, in dem Geld- oder Freiheitsstrafen zur Verfügung stehen, hat das Gericht im Jugendstrafrecht mehr Sanktionsmöglichkeiten, eine „größere Wirkungspalette“, wie Amtsgerichtsdirektor Florian Bollacher sagt. Das Jugendstrafrecht macht etwa ein Drittel seiner Tätigkeit aus. „Im Jugendstrafrecht kann man früher und zielgerichteter reagieren. Unser aller Ziel muss sein, dass die Jugendlichen die Kurve kriegen.“

Angefangen beim Schreiben eines Besinnungsaufsatzes oder dem Ableisten von gemeinnütziger Arbeit über Geldauflagen oder das Besuchen eines Beratungskurses bis hin zu Arrest oder Jugendstrafe hinter Gittern: Was geeignet ist, zu wirken, ist eine individuelle Sache. Strafe oder Erziehung? Freiheit oder Gefängnis? Verständnis oder Härte? Wie viel braucht man wovon? Das sind die Pole, zwischen denen sich Justiz und Sozialpädagogik bewegen. „Man muss immer die Gesamtsituation und die Lebensumstände betrachten“, sagt Bollacher. Etwa 200 Jugendrichterfälle im Jahr werden am Backnanger Amtsgericht verhandelt, in den Coronajahren 2020 bis 2022 waren es deutlich weniger. Geht es in den Bereich der Jugendstrafe, ist das Jugendschöffengericht Waiblingen zuständig. „Wenn ich vier Angeklagte habe, die die gleiche Straftat begangen haben, heißt das nicht, dass sie die gleiche Strafe bekommen“, sagt Diplom-Pädagogin Sabine Gerner, die seit über zehn Jahren bei der Jugendgerichtshilfe tätig ist.

Die Jugendlichen, die sie betreut, sind zu zwei Dritteln männlich. Bei den Intensivtätern ist sogar der Großteil männlich. Im gesamten Rems-Murr-Kreis gibt es etwa sechs bis zehn Intensivtäter. „Eine verschwindend geringe Zahl“, ordnet Gerner ein. Das Polizeipräsidium Aalen hat im Coronajahr 2021 im Rems-Murr-Kreis 1604 junge Tatverdächtige unter 21 Jahren erfasst, was einem Rückgang von 16,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht und den niedrigsten Wert seit 2003 darstellt. Jugendgerichtshilfeleiter Auktor bestätigt: „Wir haben sicherlich 20 Prozent weniger Jugendkriminalität als noch vor 20 Jahren.“

Jugendgericht Backnang: 100 Jahre Strafrecht für Jugendliche

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Obwohl auch die Gewaltkriminalität laut offiziellen Statistiken bei Jugendlichen und Heranwachsenden seit Mitte der 2000er-Jahre deutlich zurückgegangen ist, wird sie vermehrt als steigend wahrgenommen. Straftaten von jugendlichen Intensiv- und Gewalttätern sorgen für große mediale Aufmerksamkeit und lösen anschließend meist auch öffentliche Debatten aus. Kritik am Jugendstrafrecht wird dann oft laut: Sind die Strafen zu milde? Insbesondere bei schweren Vergehen wie Totschlag, Raub, Vergewaltigung? Und auch die Tatsache, dass auf Heranwachsende in der überwiegenden Anzahl noch das Jugendstrafrecht angewendet wird, wirft immer wieder Fragen auf.

Für Amtsgerichtsdirektor Bollacher ist das durchaus nachvollziehbar. Er sagt, es gehe ihm beim Lesen von Zeitungsberichten über Jugendstrafverfahren häufig selbst so, dass er sich wundere. Einerseits. Andererseits sei ein Bericht eben nur ein Ausschnitt, auf dessen Grundlage keine fundierte Bewertung stattfinden könne, so Gerner. Fakt sei, es gebe bereits Zehnjährige, die eine Latte von Delikten auf dem Kerbholz hätten, die man aber strafrechtlich nicht belangen könne, schildert Bollacher. Auch die Abgrenzung bei Heranwachsenden sei schwierig: Wenn man im Alter von 16 Jahren bereits wählen dürfe, aber mit 20 Jahren noch nach Jugendstrafrecht behandelt werde, „da kann man schon ein Fragezeichen dahintersetzen. Das ist schon ein Widerspruch und passt nicht zusammen.“

Der Zeitraum der Jugendhat sich massiv verlängert

Auktor betrachtet die Altersgrenzen aus einem anderen Blickwinkel: „Warum stellen wir 14-Jährige vor Gericht, wenn man erst mit 16 Jahren wählen darf?“ Der Zeitraum der Jugend habe sich massiv verlängert, findet er. Altersgrenzen würden nie allen gerecht werden. Seine Kollegin Gerner bestätigt: „Viele Jungs wohnen noch mit 24 Jahren zu Hause. Da kann man nicht von autonomem Leben sprechen.“

Im Übrigen sei die Anwendung des Jugendstrafrechts nicht immer negativ zu betrachten, gibt Bollacher zu bedenken: Arrest könne härter sein als eine Geldstrafe. Auch eine Arbeitsauflage, die das Aufgeben von Freizeit und körperlichen Einsatz abverlange, könne mehr wehtun als eine Geldstrafe.

Wichtig sei im Jugendstrafrecht eine möglichst schnelle Reaktion, damit der Bezug zur Verfehlung und in der Folge der Erziehungscharakter erhalten blieben, so Bollacher. Ein Problem sieht der Amtsgerichtsdirektor darin, dass viele Jugendliche nicht verstehen, wie ernst es ist, wenn sie zu einer Jugendstrafe verurteilt werden, die zur Bewährung ausgesetzt wird. Sie würden den Gerichtssaal verlassen und weitermachen wie bisher, beobachtet Bollacher.

Grundsätzlich nach mehr Härte zu rufen, halten sowohl der Amtsgerichtsdirektor als auch die Sozialpädagogin nicht für richtig. Wer nach ganz harten Strafen für Jugendstraftäter rufe, so Bollacher, müsse bedenken, dass für einen Erwachsenen sieben Jahre Gefängnis ein überschaubarer Zeitraum seien – im Gegensatz zu einem Jugendlichen. „Für ihn ist das womöglich die Hälfte seines bisherigen Lebens.“ Auktor nennt als Beispiel die USA, die härtere Strafen für kriminelle Jugendliche haben, aber nicht weniger Probleme mit Gewalt. Er relativiert: Manch ein Straftäter brauche den Freiheitsentzug als Begrenzung, „wenn es nicht funktioniert, mit Worten zu begrenzen“. „Wir brauchen die Sanktionen. Aber wenn wir die Menschen nicht verändern, helfen Sanktionen nichts. Dadurch wird niemand geschützt.“

Jugendgerichtsgesetz (JGG)

Historie Das Reichsjugendgerichtsgesetz wurde am 16. Februar 1923 erlassen. Die Strafmündigkeit wurde von 12 auf 14 Jahre heraufgesetzt und es wurden spezielle Jugendgerichte geschaffen. Erstmals wurde definiert, wann ein Jugendlicher nicht bestraft werden darf: „Wenn er zur Zeit der Tat nach seiner geistigen und sittlichen Entwicklung unfähig war, das Ungesetzliche der Tat einzusehen oder seinen Willen dieser Einsicht gemäß zu bestimmen.“ Nach dem Zweiten Weltkrieg trat in der BRD am 1. Oktober 1953 ein neues Jugendgerichtsgesetz in Kraft, zum 1. Januar 1975 wurde die Volljährigkeit von 21 auf 18 Jahre herabgesetzt.

Anwendung Das JGG ist auf alle strafmündigen, mindestens 14 Jahre alten Jugendlichen anwendbar. Heranwachsende (18- bis unter 21-Jährige) werden nach Jugendstrafrecht bestraft, wenn sie zur Zeit der Tat in ihrer sittlichen und geistigen Entwicklung einem Jugendlichen gleichstanden oder es sich nach Art oder Beweggründen der Tat um eine Jugendverfehlung handelt.

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Erstellt:
16. Februar 2023, 11:30 Uhr

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