Kilo für Kilo zurück ins Leben gefunden

Mutmacher-Geschichten: Mit 15 Jahren wurde Kirsten Katz magersüchtig. Sie hungerte, bis ihr Körper sprichwörtlich nur noch aus Haut und Knochen bestand. Ein Klinikaufenthalt rettete ihr das Leben. Doch mit den Spätfolgen muss sie bis heute leben.

Kirsten Katz sitzt mit Kater Schoko auf dem Sofa in ihrer Wohnung in Haubersbronn. Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Kirsten Katz sitzt mit Kater Schoko auf dem Sofa in ihrer Wohnung in Haubersbronn. Foto: A. Becher

Von Melanie Maier

SCHORNDORF. 35 Kilogramm leicht war Kirsten Katz auf dem Höhepunkt ihrer Erkrankung. Zwei Kilo weniger und die Ärzte hätten der 164 Zentimeter großen jungen Frau nicht mehr helfen können. Heute ist Katz eine lebensfrohe Frau. Sie ist 61 Jahre alt, wohnt in Schorndorf-Haubersbronn mit ihren Katzen Schoko, Archie und Bella. Sie geht auf die Rente zu, ist finanziell gesichert, liebt Ausflüge in die Natur, tiefgründige Gespräche mit Freunden, gutes Essen. Torte, Süßigkeiten, Gin Tonic – Kirsten Katz erlaubt sich alles, worauf sie Lust hat. Das einzige Kriterium: Die Qualität muss stimmen. Eine Waage hat sie nicht, denn „ich möchte das Leben genießen“, betont sie.

Dass sie diesen Satz sagt, ist mit Blick auf ihre Biografie ein kleines Wunder. Mit 15 Jahren wird Katz magersüchtig. Ihre Krankheitsgeschichte beginnt mit einem Krankenhausaufenthalt. Aufgrund einer Fehlgeburt im Mutterleib muss die Jugendliche zum Schwangerschaftsabbruch in die Klinik. Ihre Mutter steht ihr in der schwierigen Zeit nicht zur Seite, im Gegenteil: Sie beschimpft sie vor den Mitpatientinnen im Sechsbettzimmer, treibt ihren Freund gegen sie auf. Er kommt sie nicht mehr besuchen. Katz fühlt sich von der Mutter verraten, beschämt und allein gelassen. Sie fängt an, weniger zu essen. In 14 Tagen nimmt sie zwei oder drei Kilo ab. Die junge Frau möchte ihre Rundungen und damit ihre Weiblichkeit verlieren, um ihrer Mutter, die sie schon mit zwölf Jahren damit aufzog, dass sie ein paar Kilo zugenommen hatte, äußerlich nicht ähnlicher zu werden.

„Alles hat sich nur noch ums Nicht-Essen gedreht.“

So sieht Kirsten Katz es zumindest heute. Damals hat sie über die Hintergründe ihrer Verhaltensänderung nicht groß nachgedacht. Sie hat einfach immer weniger gegessen. „Erst war es vielleicht noch ein Apfel am Tag. Dann ein halber, ein Viertel, die Hälfte von einem Viertel und so weiter“, erinnert sich Katz. Einmal habe sie neun Tage in Folge nichts gegessen. „Man hat irgendwann auch keinen Hunger mehr“, erklärt sie. Der Blick für ein normales Essverhalten ging verloren. „Alles hat sich nur noch ums Nicht-Essen gedreht“, erinnert sich Katz. Ihre Beziehung und ihre Freundschaften gingen dadurch zugrunde. Ihr Körper veränderte sich. Ihre Haare fielen aus, sie hatte eingefallene Augen, konnte nicht mehr schlafen, die Periode blieb aus.

Dass sie sprichwörtlich nur noch aus Haut und Knochen bestand, sah sie nicht, wenn sie in den Spiegel schaute. Anderen fiel es natürlich auf. Einmal sagte ihre Mutter zu ihr: „Es gibt auch Fälle, in denen das zur Krankheit wird.“ Sie habe dem sofort widersprochen, sagt Katz: „Ich habe ihr gesagt: ‚Das passiert mir nicht, ich habe das unter Kontrolle.‘“ Tatsächlich machte sie trotz der Magersucht nach der Mittleren Reife eine hauswirtschaftliche Lehre an einer Berufsfachschule, danach eine kaufmännische Lehre. Ihre Prüfung zur Industriekauffrau meistert sie mit Bravour. „Klar“, sagt sie, „mein Leben bestand nur noch aus Lernen und Nicht-Essen. Ich hatte keine sozialen Kontakte mehr, die mich hätten ablenken können.“

Nach dem Abschluss fand Katz eine Anstellung als Sekretärin in Pforzheim, wo sie aufgewachsen war. Doch so langsam bemerkte auch sie, dass mit ihrem Körper etwas nicht stimmte. „Ich war die ganze Zeit schwach. Mein Körper hat nur noch auf Sparflamme funktioniert“, sagt sie. Mit 18 oder 19 Jahren wandte sie sich an ihren Hausarzt, gab zu: „Ich brauche Hilfe.“ Er schickte sie sechs Wochen ins Krankenhaus. Dort arbeiteten die Ärzte zunächst daran, sie auf eine lebensfähige Basis von 40 Kilogramm zu bringen.

Die ersten Schritte auf dem Weg zur Heilung. Er hätte kürzer sein können. Kirsten Katz’ Mutter verhinderte, dass ihre Tochter während des Krankenhausaufenthalts auch psychologisch betreut wurde. Katz vermutet dahinter verdrängte Schuldgefühle. „Ich selbst wäre eigentlich dafür bereit gewesen“, sagt sie.

Kurze Zeit später ging sie zu einem Psychologen, der seine Praxis in Pforzheim neu eröffnet hatte. Er verschrieb ihr Medikamente, nahm sie in eine Gruppentherapie auf, doch die musste Katz abbrechen. „Ich war psychisch einfach nicht mehr belastbar“, berichtet sie.

„Das Erste, was Sie lernen müssen: An einem gedeckten Tisch zu sitzen.“

Der Therapeut wies sie in eine Klinik in Oberursel, nahe Frankfurt, ein. Sechs Wochen standen auf dem Einweisungsschein, geblieben ist sie acht Monate. „Das Erste, was Sie lernen müssen in der Therapie: an einem gedeckten Tisch zu sitzen“, erzählt sie. „Der innere Widerstand ist anfangs sehr groß.“ Zu Beginn habe es sie Überwindung gekostet, nur ein paar Löffel Suppe zu essen. Manche ihrer Mitpatientinnen hätten getrickst, die Suppe in Blumentöpfe geschüttet. „Aber das habe ich nie gemacht.“

Die letzten zwei Monate des Klinikaufenthalts arbeitete sie neben ihren Therapiesitzungen und festen Essenszeiten im Büro einer Firma mit. „Das war so etwas wie eine Eingliederungsmaßnahme“, erklärt Katz. Entlassen wurde sie später nur unter der Voraussetzung, dass sie einen neuen Wohnort, eine adäquate Arbeitsstelle und einen ambulanten Therapieplatz vorweisen konnte. „Bei einer Essstörung geht es nicht ohne psychologische Betreuung!“, ist Katz überzeugt. „Die Magersucht“, betont sie, „ist eine Sucht. Das ist wie bei einem Drogensüchtigen: Sie treibt einen dazu, immer wieder zu alten Mustern zurückzukehren.“ In ihrem Fall: auf jedes Kilo zu achten, Essen in winzige Portionen zu teilen. Es war ein schwerer, langer Weg zurück in die Normalität für Katz. Vier Jahre nach dem Klinikaufenthalt traf sie in ihrem neuen Wohnort Frankfurt die Entscheidung: „Ich will mich nicht mehr dem Diktat des Essens unterwerfen!“ Sie erinnert sich genau an den Moment, an die Straße, auf der sie stand. Die Sonne schien ihr ins Gesicht. „Das war keine spontane Entscheidung“, erklärt sie, „sondern das Ergebnis der psychologischen Arbeit.“ Gut zehn Jahre hatte sie noch Rückfälle. Dass sie heute nicht mehr groß übers Essen nachdenkt, auch das sei das Ergebnis jahrelanger Therapie, so Katz: „Es ist eine unglaubliche Freiheit, die ich mir erarbeitet habe.“

Mit den Spätfolgen der Krankheit muss sie jedoch bis heute leben. Bereits mit Ende 20 hatte sich ihre Knochendichte so verschlechtert, dass sie Arthrosen entwickelte. Die Folge: unzählige Operationen, die vorerst letzte vor einer Woche an der Schulter. Das ist der Grund, warum sie sich dazu entschlossen hat, ihr Schicksal zu teilen: Sie möchte vor den Gefahren der Magersucht warnen.

Mit ihrem Schicksal hadert sie trotz allem nicht. „Die Krisen haben mich zu der Person gemacht, die ich heute bin“, sagt sie. Sensationell findet Katz es, wie sie im Leben steht. Sie hat auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur nachgeholt, BWL studiert. Nach jahrelanger freier Arbeit für Ingenieurbüros war sie als Stadtführerin aktiv, hat Wirbelsäulengymnastik und Qigong unterrichtet. Nun ist sie in der Kommunalpolitik aktiv, um den Menschen von ihrer Berufs- und Lebenserfahrung etwas zurückzugeben. Nach wie vor freut sie sich über jede Mahlzeit.

In der Serie Mutmacher-Geschichten berichten wir über Menschen, die ihr Glück gefunden haben, die schwierige Situationen gemeistert und ihre Träume verwirklicht haben. Damit setzen wir einen Gegenpol zu all den negativen Nachrichten, die jeden Tag in der Zeitung stehen.

Was tun, wenn das Kind Anzeichen für eine Magersucht entwickelt?

Eine Magersucht ist eine schwerwiegende Erkrankung, die unbedingt behandelt werden muss, teilt die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung mit. Typisch seien ein starker Gewichtsverlust oder anhaltendes Untergewicht. Betroffene haben Angst davor, zuzunehmen oder zu dick zu sein. Daher schränken sie ihre Nahrungsaufnahme ein. Obwohl sie auffallend dünn sind, empfinden sie sich selbst als unförmig und dick. Der wissenschaftliche Name der Magersucht lautet Anorexie oder Anorexia nervosa.

Weitere Anzeichen können sein: Betroffene kontrollieren in ausgeprägter Form ihre Nahrungsaufnahme. Beim Essen entwickeln sie Rituale. Dazu gehört Kalorienzählen, langsames Essen, das Kleinschneiden der Nahrung oder Essen nach Zeitplänen. Einige Betroffene treiben übermäßig Sport.

Die Magersucht hat ihren Beginn vor allem während der Pubertät. Aber auch junge Erwachsene und Kinder unter 13 Jahren können daran erkranken.

Bei einer Magersucht wird der Körper nicht ausreichend mit Nährstoffen versorgt. Die Betroffenen sind oft müde und frieren. Einige haben Konzentrations- und Herzrhythmusstörungen, Kreislaufbeschwerden. Zudem kann es zu einer Verringerung der Knochendichte (Osteoporose), Haarausfall und einer „Lanugo-Behaarung“ kommen, einer feinen, flaumartigen Behaarung. In der Pubertät kann sich das Wachstum verlangsamen. Bei Mädchen und Frauen bleibt die Monatsblutung aus. Bei Jungen und Männern kann es zu Potenzverlust kommen. Psychische Probleme sind häufig. Menschen mit Magersucht haben ein mehr als fünffach höheres Risiko zu sterben als Gesunde.

Wird die Krankheit früh behandelt, sind die Aussichten auf eine völlige Genesung gut. Erste Hilfe erhalten Betroffene und deren Angehörige etwa bei Harry Müller, Kommunaler Suchtbeauftragter in Backnang (07191/8954456, ha.mueller@rems-murr-kreis.de). Eine Broschüre zum Thema gibt’s unter https://tinyurl.com/hafr4pse.

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Erstellt:
10. Juli 2021, 11:30 Uhr

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