Kimmich, der Kapitän und Kümmerer
Der 30-Jährige steht bei der Nations League vor seinem 100. Länderspiel. Trotz starker Leistungen und hoher Wertschätzung begleitet den Münchner ein Makel – das zeigt vor allem der Blick in den Hunderterclub des DFB.
Von Carlos Ubina
Herzogenaurach - Die Zahlen sagen einiges aus. 58, 55, 54, 48, 55 – so viele Einsätze hat Joshua Kimmich allein in den jeweiligen Spielzeiten der vergangenen fünf Jahre absolviert. Für den FC Bayern München und die deutsche Nationalmannschaft, immer auf Hochbetrieb. Kimmich ist im modernen Fußball ein Vielspieler. Die Gesetze der Belastungssteuerung, die Trainer anwenden, um Profis zu schonen, scheinen bei ihm außer Kraft gesetzt. Der 30-Jährige will einfach nur spielen – und gewinnen. Das entspricht seinem Naturell.
„Ich freue mich immer, wenn Jo im Abschlussspiel in meiner Mannschaft steht. Das ist ein gutes Zeichen“, erzählt der Stürmer Niclas Füllkrug im Mannschaftsquartier in Herzogenaurach über die Verhältnisse in der Auswahl des Deutschen Fußball-Bundes (DFB). Der Kapitän genießt höchste Wertschätzung. Denn Kimmich mag auch nicht im Training verlieren und treibt die Mitspieler an, um sie besser zu machen und das Maximale aus dem Team herauszuholen.
Als Mister Ehrgeiz wird der Abwehr- und Mittelfeldspieler oft beschrieben. Als Typ, der verbissen Siegen hinterherjagt und mit grimmigem Gesicht jubelt. Alles Teil seiner Persönlichkeit, aber eine Obsession ist dieser Erfolgshunger nicht. Eine hohe Antriebskraft verspürt Kimmich dagegen schon von Kindesbeinen an. Weit haben ihn Wille, Talent und Fleiß gebracht, seit der gebürtige Rottweiler aus der Jugend des VfB Stuttgart hervorgegangen ist. Er steht an diesem Mittwoch (21 Uhr/ZDF) in München gegen Portugal vor seinem 100. Länderspiel.
„Tatsächlich bedeutet das sehr viel für mich. Es ist schon eine große Ehre, so viele Spiele für Deutschland bestritten zu haben. Das zeigt natürlich, dass man die letzten neun oder zehn Jahre auf einem ganz guten Niveau unterwegs war“, sagt der Jubilar.
Im Mai 2016 ging es mit dem EM-Test gegen die Slowakei los. Eine Niederlage, mit einem unglücklich agierenden Kimmich als Rechtsverteidiger. Jetzt steht das Halbfinale in der Nations League an. Dazwischen hat Kimmich nach eigener Aussage Höhen und Tiefen mit der Nationalelf erlebt – und schaut in besonderer Weise auf seine Schlüsselmomente zurück.
Das Aus bei der Heim-EM im vergangenen Sommer im Viertelfinale gegen Spanien ist ihm in schaurig-schöner Erinnerung geblieben, ebenso die Halbfinalniederlage gegen Frankreich bei der Europameisterschaft 2016. „Beide Male waren wir nahe dran am Titelgewinn“, sagt Kimmich. Ansonsten verbinden sich mit ihm als Symbolfigur einer begabten, aber unvollendeten Generation enttäuschende Weltmeisterschaften. 2018 in Russland und 2022 in Katar. Dabei sollte der Confed-Cup-Gewinn 2017 mit einer jungen DFB-Formation der Beginn von etwas Großartigem sein, eine von Kimmich und Co. geprägte Ära mit Triumphen.
„Die Chance auf einen großen Titel besteht ja noch“, sagt Kimmich mit Blick auf die WM 2026 in den USA, Kanada und Mexiko. Zunächst rückt aber ein kleiner Titel in den Fokus, der große Wirkung entfalten soll. Beim Finalturnier der Nationenliga. Erst steht die Begegnung mit den starken Portugiesen an, danach am Sonntag möglichst das Endspiel gegen Frankreich oder Spanien. „Es wäre für uns als Mannschaft wichtig in unserem Prozess und in unserer Entwicklung beide Spiele gegen Topnationen zu gewinnen“, sagt Kimmich.
Er führt eine Mannschaft an, die sich im Wandel befindet und die in Deutschland einen Stimmungsumschwung hinbekommen hat. Mal als leiser, mal als lauter Leader. „In der Kabine bin ich kommunikativ, auf dem Platz kann es schon mal emotional werden“, sagt Kimmich, der den Mitspielern als Vorbild dient, da er an das große Ganze denkt.
„Als Kapitän ist Jo herausragend gut, nicht nur, weil er es auf dem Platz gut macht und mit seiner Art für andere Spieler schon ein Anreiz ist, alles reinzuschmeißen in jedem Training“, sagt Julian Nagelsmann. Dem Bundestrainer geht es auch um die menschliche Seite. Kimmich kümmert sich viel um Betreuer und Mitarbeiter.
„Ich glaube, man kann das Amt mit der Binde nicht besser ausführen“, sagt Nagelsmann. Dennoch begleitet Kimmich im Nationaltrikot ein Makel. Als 14. Spieler rückt er in den erlauchten Hunderterclub des DFB. Und alle 13 vor ihm sind Weltmeister. Angeführt wird die Liste von Lothar Matthäus mit 150 Einsätzen. Eine Zahl, die auch Kimmich beeindruckt – und die er in jungen Jahren selbst schon ins Visier genommen hat. Er wollte sie schlicht überbieten.
Rekordnationalspieler werden zu wollen – höher können die eigenen Ambitionen und Ansprüche kaum sein. Doch Kimmich weiß sich auch vor der bisherigen Lebensleistung eines Gegners zu verneigen: Cristiano Ronaldo. 219 Länderspiele, 136 Tore. „Krasse Zahlen, das ist schon noch ein Stück weit weg“, staunt Kimmich über den 40-Jährigen aus Funchal auf Madeira. Eine andere Dimension, wenn man so will – auch, wenn 58, 55, 54, 48 und 55 ebenfalls beeindrucken.