Konzepte gegen Kirchenaustritte

„Kinder haben ein Recht auf Religion“

Seit einem Jahr ist Markus Grapke evangelischer Landespfarrer für Kindergottesdienst. Seine Mission: Kinder zwischen drei und zwölf Jahren an Kirche und christliches Leben heranführen.

Grapke auf Schloss Beilstein, einer Tagungsstätte der Landeskirche, genutzt als  „Haus der Kinderkirche“

© Rüdiger Bäßler

Grapke auf Schloss Beilstein, einer Tagungsstätte der Landeskirche, genutzt als „Haus der Kinderkirche“

Von Rüdiger Bäßler

Weihnachten 2022, noch einmal Kindergottesdienst in der Ulmer Christuskirche, lange Jahre Arbeitsort des evangelischen Pfarrers Markus Grapke. Die Bänke sind schon voll besetzt, da steht er noch in Straßenkleidung vor dem Altar und gibt letzte Handreichungen zum Krippenspiel, plaudert, scherzt, klickt das Stromkabel in seine Akustik-Gitarre.

Erst als die Glocken läuten und die Orgel von der Empore tönt, verschwindet er kurz, um sich den Talar überzustreifen. Ab und zu blitzt sein Ohrring auf, den er sich schon im Studium zulegte.

An diesem Tag ist Pfarrer Grapke aus Lonsee im Alb-Donau-Kreis längst zur überregionalen Repräsentationsfigur avanciert, mit Wirkung zum 1. April 2021 wurde er Landespfarrer für Kindergottesdienst in der evangelischen Landeskirche Württemberg.

Die Messe in Ulm war nur so etwas wie eine Reminiszenz an ältere Tage, wärmender Rückblick und Abwechslung zum nüchternen neuen Büroalltag in Stuttgart-Birkach. In der Landeshauptstadt, genauer in Zuffenhausen, begann er auch seine Laufbahn.

Als Endamt für verdiente Geistliche auf der beginnenden Schlussgeraden des Berufslebens versteht der 50-Jährige den neuen, auf zehn Jahre angelegten Posten nicht.

Das gibt die Stellenbeschreibung auch kaum her. Sie lautet, Konzepte zu finden, wie Kinder im Alter zwischen drei und zwölf Jahren an Kirche und christliches Leben herangeführt werden können. Mission impossible, sagt die Statistik. Nach Angaben der Landeskirche ist die Zahl der Kirchenaustritte im Jahr 2022, dem Bundestrend folgend, im Vergleich zum Vorjahr weiter gestiegen – von 25 993 auf 32 797.

Sollten Kinder nicht selber entscheiden dürfen?

Grapke kennt die Zahlen, die Fragmentierung der gesamtgesellschaftlichen Interessen, das sonntägliche Predigen ins Halbleere, die kircheninternen Debatten darüber, wie weit sich christliche Verkündigung dem Zeitgeist entgegenlehnen darf, aber er sagt: „Kinder haben ein Recht auf Religion.“

Ein Beispiel für ihn: Im Alter von acht bis neun Jahren erkennen Kinder laut Erziehungswissenschaft die Endgültigkeit des Todes, der zuvor oft noch als etwas Reparierbares verstanden wurde, sind deswegen manchmal bestürzt, stellen Fragen. „Dann kann die Kirche Antworten geben.“ Ob sie verfangen und Bestand haben, sollten die Kinder im Lauf ihres Erwachsenwerdens später eigenständig entscheiden dürfen, findet Grapke.

Selber wirkt Grapke wie ein Mann von unerschütterlichem Optimismus. Eines seiner liebsten Zitate, dem Reformator Martin Luther zugeschrieben, lautet: „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“ Einen eigenen Sinnspruch, bezogen auf die Institution Kirche, hat er auch, bloß keinen sehr poetischen: „Wenn wir nur noch von unserem Niedergang reden, dann glaube ich, dass das keinen Menschen bewegen wird.“

Die Kirchen müssen bunt werden, findet der Pfarrer

Also hat er seinen Großversuch begonnen, die Dinge zu wenden. Ein Schlüsselbegriff dabei ist für ihn Diversität. Lonsee verfügt über einen Bahnhof, fast täglich steigt Grapke, dessen Frau und vier Kinder den Umzug in die Landeshauptstadt nicht mitgemacht haben, dort in einen Zug Richtung Stuttgart. In den Pendlerwaggons sehe er „die volle Vielfalt“ menschlicher Existenz: Alte und Junge, Farbige, Einsame, Paare, Menschen mit Handicap, mit Suchtproblemen, Muslime, Arbeitstiere mit offenem Laptop auf dem Weg in ihre Büros. „Aber in der Kirche sehe ich wenig Vielfalt.“ Das zu ändern und „aufzubrechen“ ist laut Grapke eine „Überlebensstrategie für die Kirche“.

Dass eine Veränderung allein innerhalb der Gotteshäuser gelingt, glaubt der Landespfarrer nicht; man werde sich wohl daran gewöhnen müssen, „dass die Leute nicht mehr wie früher zu uns kommen“.

Womöglich aber an Orte wie Schloss Beilstein im Kreis Heilbronn. Die württembergische Landeskirche hat den Bau vor Jahrzehnten gekauft und zu ihrem „Haus der Kinderkirche“ gemacht, einer Tagungsstätte mit 23 Zimmern, Restaurantbetrieb, Rittersaal.

Auch Grapke unterrichtet hier oft, zum Beispiel Gruppen von Jugendlichen, die ihre amtliche Jugendleitercard erwerben. Bis zu 9000 Übernachtungen jährlich zählt der Betrieb am Fuß der Löwensteiner Berge nach eigenen Angaben.

Die Arbeit richtet sich auch aufs Jahr 2025

Das Bibliothekszimmer und die Terrasse des Schlosses zählen zu Grapkes Lieblingsorten. Der Blick geht weit, unten im Tal schlängelt sich dichter Autoverkehr durch die belebte Kleinstadt Beilstein, in der Ferne blühen die ersten Obstbäume. Jugendliche und junge Erwachsene, die hier in Gruppenleitung ausgebildet werden, ihren Glauben festigen und dann ins Land gehen und im Rahmen einer „aufsuchenden Kirche“ ihre Überzeugung weitertragen, das wäre nach dem Geschmack des Kinderpfarrers.

Einen guten Startzeitpunkt sieht er im Jahr 2025. Dann müssen die Schulträger zur besseren Vereinbarung von Familie und Beruf die Ganztagesbetreuung an den Grundschulen umsetzen – bis zu 40 Stunden pro Woche und auch über einen großen Teil der Ferienzeiten hinweg.

Um den Betreuungsanspruch für Eltern einzulösen, brauche es flächendeckend geschultes Personal, sagt Grapke voraus, ausreichende Betreuungsschlüssel, vielfältige Angebote, zusätzliche Räume. Die Kirchengemeinden könnten mit ihrer Infrastruktur, mit Gesprächsrunden, Kochkursen oder Spielkreisen dabei sein, nicht weniger als Sportvereine, Musikschulen und andere der Jugend zugewandte Institutionen, findet der Pfarrer.

Das wird auf Widerstände in kirchenfernen Kreisen stoßen, Grapke weiß das. Seine Idee wird den von Ulm gekommenen Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl an seiner Seite brauchen, mit dem er sich gut versteht, denn: „Es braucht ein ganz deutliches Signal der Landesregierung, dass sie uns als Spieler in den Schulen schätzen.“ Eltern müssten wissen, „dass es nicht um den heimlichen Zweck der Kirchenmitgliedschaft“ gehe, sondern um „Stärkung und Ermutigung“ von Kindern.

Endlich die Infokanäle von Kindern benutzen

Kindgerechte Auftritte in sozialen Medien statt an Fassaden geschraubte Zettelkästen für Mitteilungen, Familiengottesdienste als wiederkehrendes Gesamterlebnis mit Werkkursen und großem Mittagsbüfett, das sind weitere Vorhaben, mit denen Grapke begonnen hat und für die er die evangelischen Gemeinden im Land begeistern möchte.

In Rutesheim im Kreis Böblingen zum Beispiel sei das Format „Kirche kunterbunt“ schon gut etabliert. Er könne nichts dekretieren, sagt er, ohne die Pfarreien und die Beauftragten für Kinderkirche in den Kirchenbezirken sei er machtlos. „Wir werden viel mehr zu den Menschen gehen müssen“, mit einer „anderen Denke von Kirche“, predigt er intern.

Auf der Außenterrasse von Schloss Beilstein stehend dreht sich der Kinderpfarrer um und guckt steil nach oben, zum Weinberg, der sich oberhalb der Dächer anschließt. Wer dort Ernte machen will, muss trittsicher und furchtlos sein. Grapke sagt, für ihn sei das hier das schönste Panorama.

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Erstellt:
4. April 2023, 14:12 Uhr

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