Nahrungsmangel im Gazastreifen

Kinder in Gaza – Die Schwächsten trifft es am härtesten

In Gaza eskaliert die humanitäre Katastrophe. Kinder sind am härtesten betroffen. Eine Ärztin von „Ärzte ohne Grenzen“ schildert die dramatische Lage vor Ort.

Kinder in Gaza sind am härtesten von der Hungersnot betroffen (Archivfoto).

© IMAGO/Anadolu Agency

Kinder in Gaza sind am härtesten von der Hungersnot betroffen (Archivfoto).

Von Gülay Alparslan

Als im Jahr 2015 der leblose Körper des zweijährigen syrischen Jungen Alan Kurdi an der türkischen Mittelmeerküste angeschwemmt wurde, erschütterte dies die Welt. Zehn Jahre später erreichen uns erneut schockierende Bilder – diesmal aus dem Gazastreifen. Sie zeigen Säuglinge und Kleinkinder, die völlig abgemagert oder an Mangelernährung gestorben sind. Doch anstatt Mitgefühl oder Empörung zu zeigen, wird die Echtheit der Fotos angezweifelt. Der Zustand der Kinder wird damit erklärt, dass sie ohnehin an Vorerkrankungen wie Mukoviszidose gelitten hätten. Als sei eine Vorerkrankung die Ursache für die Mangelernährung oder den Tod.

Nach Einschätzung von UNICEF sind mehr als 450.000 Kinder allein in Gaza-Stadt von der anhaltenden Offensive betroffen. Die Kinderhilfsorganisation warnt vor einer Katastrophe. Der Einsatz explosiver Waffen in dicht besiedelten Wohngebieten habe verheerende Auswirkungen: Kinder werden getötet oder verletzt, ihre Häuser werden zerstört, ebenso wie Schulen, Krankenhäuser und die Wasserversorgung.

Neben der unmittelbaren Gefahr durch Angriffe breitet sich auch immer mehr Hunger aus – und trifft die Jüngsten besonders hart.

Ärztin im Einsatz: „Die Kinder sind zu schwach für normale Nahrung“

Die kanadische Medizinerin Dr. Denise Potvin ist derzeit mit „Ärzte ohne Grenzen“ im Gazastreifen im Einsatz – zum dritten Mal seit 2024. Sie berichtet von einer medizinischen Versorgung am Limit: „Wir haben Ambulanzen, in denen wir Kinder behandeln, die mangelernährt, aber stabil genug sind, um therapeutische Fertignahrung zu Hause zu bekommen oder fortzusetzen“, erklärt die Medizinerin. „Diese Kinder müssen alle ein bis zwei Wochen zur Nachuntersuchung kommen, damit wir sicherstellen können, dass sie an Gewicht zunehmen und sich keine Komplikationen entwickeln.“

Für schwerere Fälle betreibt die Organisation stationäre Programme. Kinder, die klinisch instabil sind, erhalten zunächst ausschließlich therapeutische Milch – in kleinen, genau dosierten Mengen, über mehrere Tage hinweg. Erst nach einer Stabilisierung kann die eigentliche Behandlung beginnen.

Hunger, wo früher keiner war

„Vor dem Krieg hatten wir in Gaza keine Fälle von Mangelernährung“, erklärt Denise Potvin. Das habe sich mittlerweile geändert. Aufgrund des enormen Bedarfs betreibt die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ inzwischen mehrere Einrichtungen, darunter auch welche für schwangere und stillende Frauen.

In den vergangenen zwei Jahren habe es immer wieder kritische Phasen gegeben, in denen der Gazastreifen vollständig blockiert war – mit gravierenden Folgen für die Bevölkerung. So auch vor etwa zwei Monaten in Chan Junis.

„Die Menschen sind verzweifelt auf der Suche nach Nahrung“, sagt Potvin. „Jeden Tag kamen Mütter zu uns und baten um zusätzliche therapeutische Fertignahrung – nicht nur für das behandelte Kind, sondern auch für ihre anderen Kinder.“

Ärzte müssen täglich mehrfach Familien abweisen

Was als medizinische Ergänzung gedacht ist, werde in vielen Familien zur Hauptnahrungsquelle. „Es ist unglaublich herzzerreißend zu wissen, dass man eine ergänzende Behandlung anbietet, die jedoch als Hauptmahlzeit verwendet werden muss“, so Potvin.

Besonders belastend ist für sie, dass diese Krise vermeidbar wäre: „Es ist kein Naturereignis, keine Dürre, kein Ernteausfall – es ist ein vollständig von Menschen verursachtes Problem.“ Die derzeitige Mangelernährung stehe in direktem Zusammenhang mit der Schließung der Grenzen und dem Verbot der Einfuhr von Lebensmitteln.

„Luftabwürfe sind keine Lösung“

Internationale Versuche, Hilfsgüter aus der Luft abzuwerfen, sieht Potvin äußerst kritisch: „Angesichts des tatsächlichen Bedarfs sind sie ein Tropfen auf dem heißen Stein. Oft landen sie in evakuierten Gebieten und Menschen riskieren ihr Leben, um dorthin zu gelangen.“

Der Gazastreifen sei ein extrem kleines, überfülltes Gebiet, in dem viele Menschen in Zelten leben, erklärt sie. Die Gefahr, dass bei Luftabwürfen Menschen oder Zelte getroffen werden, sei sehr groß, weshalb diese extrem gefährlich seien.

Überlebenschancen vieler Kinder in Gaza akut bedroht

Hinzu kommt, dass der Zugang zu abgeworfenen Gütern davon abhängt, wer körperlich in der Lage ist, schnell zu reagieren. Wer krank, schwach oder zu jung ist, bleibt oft zurück. „Die abgeworfene Menge reicht nie aus und der Zugang ist hochriskant“, so die Ärztin. Das eigentliche Problem liege jedoch nicht im Himmel, sondern an den geschlossenen Grenzen.

Denn außerhalb des Gazastreifens stauen sich seit Monaten Lastwagen mit Hilfslieferungen – Lebensmittel, die dringend benötigt würden. Diese werden jedoch entweder blockiert oder nur in unzureichender Menge zugelassen. Solange nicht ausreichend Hilfe nach Gaza gelangt, sind die Überlebenschancen vieler Kinder in Gaza akut bedroht.

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Erstellt:
20. September 2025, 07:18 Uhr

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