Kinderärzte kommen an ihre Belastungsgrenzen

Teilweise um die 140 Patientinnen und Patienten am Tag werden derzeit in der Praxis von Kinder- und Jugendärztin Sabina Delic-Bikic versorgt. Die Belastung ist enorm, wie sie stellvertretend für viele ihrer Kolleginnen und Kollegen schildert.

Pause? Fehlanzeige! Die Arbeitsbelastung in Kinderarztpraxen wie bei Sabina Delic-Bikic (links) ist zu groß. Foto: Alexander Becher

© Alexander Becher

Pause? Fehlanzeige! Die Arbeitsbelastung in Kinderarztpraxen wie bei Sabina Delic-Bikic (links) ist zu groß. Foto: Alexander Becher

Von Lorena Greppo

Backnang. Bunte Zettel an der Plexiglasscheibe und auf den Shirts der Mitarbeiterinnen weisen darauf hin: In der Praxis von Kinderärztin Sabina Delic-Bikic ist heute Protesttag. Auch ein Infozettel zu den aktuellen Problemen der Medizinerinnen und Mediziner liegt aus. Von fehlender Wertschätzung ist die Rede, von überbordender Bürokratie und gestrichenen Leistungen. „Toll, dass ihr da mitmacht“, sagt die Mutter eines kleinen Patienten. Doch mitmachen geht nur bedingt, wie die Ärztin ausführt. Denn manche andere Praxen schließen an jenem Tag, sie nicht: „Ein Streik ginge nicht, wir können unsere Patienten nicht auf der Straße stehen lassen.“ Bei einem Besuch in der kinderärztlichen Praxis wird schnell klar, wie groß der Bedarf ist. Fast minütlich klingelt es an der Tür und auch das Telefon steht kaum still.

Aktuell haben Delic-Bikic und ihre Mitarbeiterinnen regelmäßig 12- bis 14-Stunden-Tage, manchmal sieht die Ärztin um die 140 Kinder am Tag – das ist doppelt so viel wie eigentlich üblich. „Es ist anstrengend“, fasst Jana Schmelcher zusammen. „Wenn das Team nicht so toll wäre, würde wahrscheinlich manch eine hinschmeißen.“ Auch ihre Kollegin Susanne Munz hebt hervor: „Der Zusammenhalt macht viel aus, bei uns stimmen die Abläufe.“ Allerdings verschweigen sie auch nicht, welche Probleme die übermäßige Belastung mit sich bringt – allem voran bei der Versorgung der kleinen Patientinnen und Patienten. „Gefühlt arbeiten wir wie am Fließband“, sagt Schmelcher. „Eigentlich ist es wirklich wichtig, sich Zeit zu nehmen“, so Munz. Denn bei einer Untersuchung im Schnelldurchlauf sei es schwierig, Verhaltens- oder Entwicklungsstörungen zu entdecken. Und gerade seit Beginn der Coronapandemie hätten immer mehr Kinder und Jugendliche in diesem Bereich Schwierigkeiten. „Man wird in so viele Richtungen gleichzeitig gezerrt, aber muss dabei funktionsfähig bleiben“, beschreibt Delic-Bikic. Denn bei ihr liege die Verantwortung für eine richtige Behandlung.

Neue Patienten können kaum noch aufgenommen werden

Trotz der Belastung versuchen die Praxisangestellten, immer freundlich zu bleiben. „Man lässt es eher an der eigenen Familie aus“, erzählt Jana Schmelcher. Und am anderen Ende der Telefonleitung bleiben die Eltern auch nicht immer nett. „Die meisten verstehen, was hier los ist, da gibt es nur wenige Nörgler.“ Wenn die Praxisangestellten ihnen aber eine Absage erteilen, dann können die Anrufer schon mal laut werden. „Da wird man zum Teil angeschrien oder beleidigt. Wie versuchen ihnen die Umstände zu erklären, wir sind doch auch nur Menschen“, führt sie aus. Das helfe oftmals aber auch nicht.

Neue Patienten kann die Praxis aktuell kaum aufnehmen. „Wenn es Notfälle sind, weisen wir sie aber natürlich nicht ab“, macht Delic-Bikic klar. Anfragen kommen nicht nur aus dem Raum Backnang, manchmal sogar aus Esslingen, Schwäbisch Hall oder Stuttgart – überall sind Ärzte gefragt. Unter anderem durch die vielen Ukraineflüchtlinge habe sich der Engpass verschlimmert – da koste in jedem Fall auch die Verständigung mehr Zeit. Dass der Versorgungsgrad bei Kinder- und Jugendärzten im Rems-Murr-Kreis nach aktuellen Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) bei 110,6 liegt und der Kreis somit als leicht überversorgt gilt, nötigt Delic-Bikic nur ein Schnauben ab. Der Backnanger Raum allein bräuchte noch mindestens einen weiteren Kinderarzt in Vollzeit, findet sie. Dass beim Weissacher Kinderarzt Gerold Remlinger im Frühjahr eine neue 50-Prozent-Stelle geschaffen werde, entlaste die Lage voraussichtlich ein wenig, sagt sie.

Mehr Personal, mehr Ärzte und mehr Geld wird gefordert

Die Vorstellung, die Ärzte verdienten sich mit wenig Arbeit goldene Nasen, könnte kaum ferner der Realität sein, schildert die 50-Jährige. „Ich erledige auch sonntags Bürokram und mache auch keinen Urlaub in Richtung Seychellen. Ich bin froh, wenn ich mal Zeit für meine Familie habe.“ Auch die Kosten in einer Arztpraxis seien gestiegen – etwa durch die IT. Ein Beispiel sei die Einführung des E-Rezepts, welche nicht gut funktioniert habe. Zudem mussten neue Kartenlesegeräte beschafft werden, die aber schon Jahre vorher produziert worden waren und immer wieder abstürzen. Diese müssten nun ersetzt werden. „Die KV unterstützt uns mit den Kosten teilweise, aber sie bezahlt eben nicht alles“, so Delic-Bikic. „Außerdem möchte ich, dass mein Team zufrieden ist. Dazu gehört, dass sie gut bezahlt werden.“

Für sie ist klar, was sich ändern mus: „Wir brauchen mehr Personal, mehr Ärzte und für diese Zwecke braucht es mehr Geld.“ Die Kinderärztin fordert, dass gerade im Gesundheitssektor vonseiten der Politik nicht immer nur auf die ökonomische Seite geschaut werden dürfe. Darüber hinaus gelte es, Bürokratie abzubauen – etwa indem man die Abrechnungen vereinfacht. Sabina Delic-Bikics Einschätzung zur aktuellen Lage klingt ernüchternd: „Als ich vor sechs Jahren hier angefangen habe, war ich sehr optimistisch. Aber was in den letzten drei Jahren im Gesundheitssektor passiert ist, ist einfach zu viel.“ Diese Botschaft soll mit dem Protesttag bei den politischen Entscheidungsträgern platziert werden.

Kommentar
Zeit zu handeln ist schon längst

Von Lorena Greppo

Geht man nach den Zahlen der Kassenärztlichen Vereinigung, ist der Rems-Murr-Kreis mit Kinderärzten leicht überversorgt. Allerdings sind nur sechs von insgesamt 39 Kinder- und Jugendärzten im Altkreis Backnang ansässig. Was das im Alltag für diese Ärztinnen und Ärzte bedeutet, zeigt sich eindrücklich bei einem Besuch in deren Praxen. Und nicht nur ihnen geht das so: Bei Fachärzten wartet man zum Teil monatelang auf einen Termin und auch die Versorgung mit Hausärztinnen und -ärzten ist längst nicht mehr zufriedenstellend. Erkannt wurde das – zumindest bei den Kinderärzten – deshalb nicht sofort, weil die Zahlen eben eine andere Sprache sprechen. Sich auf den Versorgungsgrad, einen rechnerischen und für eine gesamte Region angesetzten Wert, zu verlassen ist dabei nicht nur falsch, es ist fahrlässig. Wenn die Ärztinnen und Ärzte schon so weit sind, dass sie mit Streiks und Schließungen SOS funken müssen, dann ist der Zeitpunkt zum Handeln nicht heute, er war bildlich gesprochen vorgestern.

l.greppo@bkz.de

RSV-Infektionen bringen die Kinderkliniken in Bedrängnis

Deutschlandweit Schon Ende November sprach die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) von „Katastrophenzuständen an deutschen Kinderkliniken“. Der Grund: Unter anderem durch eine Welle von Infektionen mit dem RS-Virus (RSV) füllen sich die Kliniken mit kleinen Patientinnen und Patienten. Das RS-Virus löst Atemwegserkrankungen aus. Betroffen sind vor allem Kleinkinder. Sie müssen zum Teil mit Sauerstoff versorgt oder beatmet werden. Hinzu kommt aktuell noch eine Grippewelle.

Rems-Murr-Kreis In Winnenden ist die Lage noch lange nicht so schlimm wie in vielen anderen Kliniken, führt Chefarzt Ralf Rauch aus. Angespannt sei die Situation aber. Der Großteil der Patienten komme spontan, daher müsse manchmal erst Platz geschaffen werden. Man könne folglich nicht jederzeit Kinder aufnehmen. Doch müssten noch längst keine Zweibettzimmer zu Dreibettzimmern umfunktioniert und Sauerstoffflaschen auf den Boden gelegt werden, so Rauch. Es sei bislang immer gelungen, intern eine Lösung zu finden.

Rahmenbedingungen Nicht nur die RSV-Welle bringt die Kinderkliniken derzeit in Bedrängnis. Durch die Coronapandemie ist die Personallage in der Pflege sowieso schon angespannt, viele Mitarbeiter der Klinik in Winnenden haben laut Rauch etliche Überstunden auf dem Konto. Hinzu kommen Lieferschwierigkeiten bei gängigen Medikamenten wie Antibiotika oder Schmerzmitteln. Darüber hinaus können zwischenzeitlich Monitore oder andere Geräte knapp werden. Die Ausstattung werde aktuell noch aufgestockt.

Zum Artikel

Erstellt:
8. Dezember 2022, 06:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Lesen Sie jetzt!
Schockanrufe und Cyberkriminalität nehmen stetig zu. Zur Prävention bemüht sich die Polizei um Aufklärungsarbeit bei der Bevölkerung. Die Schwierigkeit dabei: Die Täter ändern ihre Maschen ständig. Archivfoto: Tobias Sellmaier
Top

Stadt & Kreis

Cyberkriminalität und Gewalt nehmen im Raum Backnang zu

Die Kriminalitätsstatistik des Polizeipräsidiums Aalen verzeichnet für 2023 steigende Fallzahlen in fast allen Bereichen. Teilweise sei dies eine Normalisierung gegenüber den Pandemiejahren, doch Polizeipräsident Reiner Möller sieht auch Anzeichen von Verrohung in der Gesellschaft.

Stadt & Kreis

Erste Jugendkonferenz in Backnang

Schülerinnen und Schüler der Helmut-Rau-Realschule in Mainhardt diskutieren gemeinsam mit ihren Backnangern Mitschülern der Max-Eyth-Realschule ihre Anliegen an die Politik. Die Jugendlichen wünschen sich vor allem, mehr Alltagskompetenzen vermittelt zu bekommen.