Landtag muss Hürden für kleinere Parteien senken

dpa/lsw Stuttgart. Corona treibt die Wahlkämpfer im Südwesten um. Kleine Parteien müssen Unterschriften sammeln für die Wahlzulassung - das ist aber schwierig, wenn man sich in der Fußgängerzone nicht nahekommen darf. Das Verfassungsgericht stärkt nun den Kleinparteien den Rücken.

Die Justitia ist an einer Türscheibe angebracht. Foto: Rolf Vennenbernd/dpa/Symbol

Die Justitia ist an einer Türscheibe angebracht. Foto: Rolf Vennenbernd/dpa/Symbol

Kleinere Parteien im Südwesten müssen wegen der Corona-Pandemie für die Zulassung zur nächsten Landtagswahl wohl nur noch die Hälfte der Unterschriften sammeln als momentan erforderlich. Bislang sind 150 Unterschriften pro Wahlkreis nötig, um die Ernsthaftigkeit der Kandidatur nachzuweisen. Mit dem Festhalten an dieser Hürde verletze der Landtag aber das Recht der kleineren Parteien auf Chancengleichheit, urteilte das Landesverfassungsgericht am Montag nach einer mündlichen Verhandlung in Stuttgart. Fünf kleinere Parteien hatten gegen den Landtag geklagt. Der Landtag muss nun das Landtagswahlrecht entsprechend ändern - die Zeit drängt.

DAS GESETZ: Parteien, die nicht im Landtag vertreten sind, müssen beweisen, dass sie es ernst meinen mit der Kandidatur und dass sie ein Mindestmaß an Unterstützern hinter sich versammeln können. Das Landtagswahlrecht schreibt vor, dass in jedem Wahlkreis 150 Stimmen von Unterstützern eingesammelt werden müssen - für die landesweite Zulassung in den 70 Wahlkreisen wären dann 10 500 Signaturen nötig. Zuerst muss ein Kandidat nominiert sein, danach kann mit der Unterschriftensammlung begonnen werden. Die Unterschriften müssen laut Gesetz 59 Tage vor der Wahl beim jeweiligen Kreiswahlleiter eingereicht werden, in dem Fall wäre das der 14. Januar 2021.

DAS PROBLEM: Die kleinen Parteien sehen diese Unterschriften-Hürde als viel zu hoch an. Viele Passanten gingen aus Angst vor dem Coronavirus derzeit auf Abstand. Die Landesgeschäftsführerin der Linken, Claudia Haydt, berichtete am Montag vor Gericht von den Schwierigkeiten mit den Signaturen. Im Schnitt müsse man acht bis zehn Personen ansprechen, um eine Unterschrift zu bekommen. Das typische Gespräch auf der Straße dauere zwischen zehn und zwanzig Minuten. Vor kurzem seien vier junge Leute einen ganzen Tag in Freudenstadt unterwegs gewesen und kamen mit einer Unterschrift für die Partei zurück, berichtete Haydt. Erst in zehn Prozent der Wahlkreise habe man die erforderlichen Unterschriften sammeln können.

DIE ARGUMENTE DER KLÄGER: Die kleinen Parteien sehen sich benachteiligt. Freie Wähler, die Linke, die Ökologisch-Demokratische Partei (ÖDP), die Satire-Partei Die Partei und die Piratenpartei - alle derzeit nicht im Landtag vertreten - hatten vor dem Verfassungsgericht geklagt, um eine Änderung des Landtagswahlgesetzes durchzusetzen. Es gehe um die Repräsentation des Wählerwillens, sagte der Verwaltungsrechtler Sebastian Roßner, Vertreter der kleinen Parteien, am Montag vor Gericht. Die kleinen Parteien müssen die Möglichkeit haben, in den politischen Wettbewerb einzutreten und den Platzhirschen das Geschäft streitig zu machen. Auch die Landtage in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen hätten mit einer Senkung der Quoren vor kurzem gezeigt, dass man das kurzfristig anpassen könne.

DIE ARGUMENTE DES LANDTAGS: Aus Sicht des Landtags nutzen die kleinen Parteien die Corona-Krise als Ausrede, um ihre Wahlchancen zu verbessern. Das Quorum von 150 Unterschriften pro Wahlkreis liege noch deutlich unter dem, was verfassungsrechtlich zulässig wäre, sagte Anwalt Christofer Lenz, Vertreter des Landtags. Rein rechtlich könnte man die Hürde auf 275 Unterschriften hochsetzen. Außerdem hätten die Parteien genug gute Monate in diesem Jahr gehabt mit geringeren Kontaktbeschränkungen, um die nötige Unterstützung auf den Straßen einzuwerben. Für die 150 Unterschriften hätten sie 300 Tage Zeit gehabt. Die kleinen Parteien müssten sich die Frage gefallen lassen, ob ihr Programm und ihre Personen so „unattraktiv und abstoßend“ seien, dass sie das Quorum nicht erfüllen könnten.

DAS URTEIL: Das Verfassungsgericht gab den kleinen Parteien recht. Der Landtag verletze deren Recht auf Chancengleichheit und müsse das Gesetz an die Pandemie-Bedingungen anpassen. Die herkömmliche Art des Sammelns der Unterschriften durch die direkte Ansprache von Personen auf Straßen und Plätzen sowie an der Haustür sei seit Ausbruch der Pandemie deutlich weniger Erfolg versprechend, urteilte Richter Malte Graßhof. Das Verfassungsgericht nannte dem Landtag zwar kein konkretes Quorum an Unterschriften, gab aber eine grobe Richtung vor: Bei einer Reduzierung um 50 Prozent sähe es „keinen Anlass für eine erneute verfassungsrechtliche Beanstandung“. Das wären dann 75 Unterschriften pro Wahlkreis.

WIE ES WEITERGEHT: Die Vertreter der kleinen Parteien zeigten sich zufrieden mit dem Urteil. Haydt sprach von einer „schallenden Ohrfeige“ für die Landesregierung. Der Landtag muss nun rasch eine Änderung des Gesetzes beschließen. Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne) rief nach der Urteilsverkündung alle demokratischen Kräfte im Parlament auf, gemeinsam eine Lösung zu erarbeiten. Die Vorgaben des Gerichts seien unmissverständlich, sagte Aras. „Angesichts dieser neuen Lage erscheinen auch die Forderungen, das Landtagswahlgesetz anzupassen und die Zulassung zur Wahl zu erleichtern, in einem neuen Licht.“ Die Grünen-Fraktion teilte mit, man sei bereit das Gesetz zügig anzupassen. Auch die SPD-Fraktion teilte mit, einer Reduzierung der erforderlichen Unterstützungsunterschriften um 50 Prozent zuzustimmen.

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Erstellt:
9. November 2020, 01:45 Uhr

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