Kretschmanns Gurkentruppe

In der Bildungspolitik ist die Koalition viel zu lahm unterwegs. Das ist ein Ärgernis und muss sich ändern.

Von Bärbel Krauß

Stuttgart - Dass politische Fragen mit Mehrheit entschieden werden, ist in einer Demokratie das erste Kerngebot der Politik. Es ist eine echte Pflicht, keine Kannvorschrift. Dies gilt auch, wenn es um Themen geht, bei denen eine Art Konkurrenz zwischen direktdemokratischen Initiativen, wie den auch in Baden-Württemberg häufiger werdenden Volksanträgen, und „normalen“ Entscheidungen im Rahmen der repräsentativen Demokratie, entstanden ist. So ist es aktuell beim Volksantrag über die rasche Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium in Baden-Württemberg.

Der Landtag hat den Volksantrag an diesem Mittwoch abgelehnt. Denn die grün-schwarze Mehrheit hält das Volksantrags-konzept, wonach alle Gymnasiasten bis zur zehnten Klasse ins G9 wechseln können, für nicht umsetzbar. Dass die Initiatoren und ihre Unterstützer deshalb enttäuscht sind, ist verständlich. Zum einen haben sie lange für ihre Sache gekämpft und werden ausgebremst. Zum anderen hätten sie zum jetzigen Zeitpunkt gerne genau gewusst, was die Regierung Kretschmann nun selbst plant bei ihrer eigenen Reform der Gymnasien.

Aber das zweite Kerngebot der Demokratie, ebenfalls keine Kannvorschrift, sondern Pflicht, verlangt, Mehrheitsentscheidungen auch gegen die eigene Position zu akzeptieren. Der Weg, für andere eigene Mehrheiten zu kämpfen, steht auch der Initiative offen. Sie kann weiter für ein Volksbegehren und eine Volksabstimmung mobilisieren, um doch noch ein Mehrheit der Wahlberechtigten für ihr G9-Konzept zu gewinnen.

Es ist allerdings wenig wahrscheinlich, dass das gelingt. Dass Grün-Schwarz unter dem Druck der Straße nun doch auch zum Abitur nach neun Jahren zurückkehren und sogar - was der Koalitionsvertrag noch zum großen Tabu dieser Wahlperiode erklärt hat - Schulstrukturen verändern will, wird der Volksinitiative den Wind aus den Segeln nehmen. Ohne den Druck von unten hätte Winfried Kretschmanns Regierung das jetzt auf keinen Fall gemacht. Dass es nun doch kommt, ist der zentrale Erfolg der von zwei Müttern gestarteten Bewegung.

Politisch ist es nicht zu beanstanden, dass Grün-Schwarz seine Mehrheit nutzt, um eigene Vorstellung einer gymnasialen Reform durchzusetzen. Denn wer ins Regierungsamt gewählt ist, hat nicht die Freiheit, die verliehene Macht zur Gestaltung politischer Wirklichkeit mal zu nutzen und mal links liegen zu lassen. Wer sie hat, muss sie einsetzen, um die Wirklichkeit möglichst zum Besseren zu verändern.

Darum geht es jetzt an den Gymnasien und an den Schulen insgesamt. Dabei macht die Koalition allerdings eine miserable Figur. Seit Monaten wird über die Bildungsvorhaben gegackert und nicht gelegt. Die Erklärungen des Ministerpräsidenten, dass die Neuregulierung einer so komplexen Materie Sorgfalt und mithin mehr Zeit benötigten, sind längst schal geworden. Baden-Württemberg ist ein großes Land mit leistungsstarker Verwaltung. Da muss man handwerklich besser regieren können. Aber vor lauter Taktieren, dass die andere Seite bei dem wichtigen Schulthema bloß nicht besser aussehen soll als man selbst, bleibt die Professionalität in der Koalition auf der Strecke.

Klar sind die Fragen nicht leicht zu lösen – so ist Schulpolitik. Dass jetzt noch nicht einmal Eckpunkte für die G9-Wende beschlossen sind, ist mehr als ärgerlich und kostet Vertrauen. Schon dass Grün-Schwarz einen Zeitplan nach dem anderen reißt, entlarvt die Koalition als Gurkentruppe, die ihr Kernthema nicht ernst genug nimmt. Kretschmann hat letzte Woche in einem Interview eingeräumt, sich im Rückblick zu wenig um die Schulpolitik gekümmert zu haben. Das stimmt, und es trifft nicht nur für ihn zu, sondern für die ganze Koalition.

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Erstellt:
17. April 2024, 22:10 Uhr
Aktualisiert:
18. April 2024, 21:55 Uhr

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