Kurz vor Tat: Ordnungsamt sprach Hanauer Todesschützen an

dpa Berlin. Bevor Tobias R. in Hanau mehrere Menschen erschießt, wirkt er ganz ruhig. Auch wenn die ersten Polizisten relativ schnell am ersten Tatort eintreffen, wirft der Einsatz der hessischen Polizei noch einige Fragen auf.

Ein Auto ist mit Thermofolie abgedeckt, neben dem Wagen liegen Glassplitter und eine Jacke. Foto: Boris Rössler/dpa

Ein Auto ist mit Thermofolie abgedeckt, neben dem Wagen liegen Glassplitter und eine Jacke. Foto: Boris Rössler/dpa

Tobias R. ist bei seinem Anschlag im hessischen Hanau trotz seiner psychischen Erkrankung sehr kalkuliert und kaltblütig vorgegangen.

Wie die Mitglieder des Innenausschusses des Bundestages am Donnerstag berichteten, war er etwa eine Stunde vor Abgabe des ersten Schusses in der Nähe des ersten Tatorts von einem Mitarbeiter des Ordnungsamtes angesprochen worden, weil sein Auto auf einem Behindertenparkplatz stand. Er habe nicht aggressiv reagiert und sein Fahrzeug umgeparkt, erfuhren die Sitzungsteilnehmer demnach von Generalbundesanwalt Peter Frank.

Hinweise über mögliche Mitwisser oder Unterstützer gebe es bislang nicht, berichteten die Abgeordneten weiter. Allerdings warteten die Ermittler noch auf Auskünfte des FBI zu möglichen Kontakten von Tobias R. während einer Reise in die USA im November 2018.

Den Angaben zufolge erschoss Tobias R. am Mittwoch vergangener Woche in Hanau innerhalb von rund zwölf Minuten neun Menschen. Er suchte offensichtlich gezielt Menschen mit ausländischen Wurzeln als Opfer aus, kundschaftete die Shisha-Bars, in denen er später tötete, vorher aus. Er sei „sehr strategisch und planvoll vorgegangen“, sagte Konstantin von Notz (Grüne).

Die Abgeordneten berichteten unter Berufung auf Frank, der Attentäter habe um 21.58 Uhr zuerst einen Menschen auf der Straße erschossen. Dann sei er geflohen und habe unterwegs einen zweiten Menschen getötet, bevor er weiter zur Bar Midnight fuhr und dort vier Schüsse durch die Tür abgab.

Unterdessen gingen die ersten Notrufe bei der Polizei ein. Um 22.03 Uhr sei der erste Einsatzwagen am ersten Tatort gewesen, hieß es. An der Bar Midnight sei ein Mensch gestorben, berichteten die Abgeordneten. Als er weiterfuhr, tötete der Mann demnach einen weiteren Menschen. Im Vorraum eines Kiosks habe er dann vier Menschen getötet. In der benachbarten Arena Bar gab es demnach einen Toten und mehrere Verletzte.

Um 22.10 Uhr sei der Todesschütze dann mit dem Auto zur Wohnung seiner Eltern gefahren. Dort soll sein Auto - nach Auswertung einer Video-Aufnahme und Kennzeichen-Abfrage - um 23.10 Uhr festgestellt worden sein. Wie ein Abgeordneter berichtete, klingelte die Polizei erst - vergeblich - an der Tür. Dann sei eine Drohne losgeschickt worden, um durch das Fenster schauen zu können. Das Spezialeinsatzkommando sei um 3.03 Uhr in die Wohnung eingedrungen, berichteten mehrere Teilnehmer der Sitzung übereinstimmend.

Ihren Angaben zufolge lag die Mutter tot im Wohnzimmer. Die Leiche von Tobias R. sei am Kellerabgang gefunden worden. Die Grünen fragten, warum es so lange gedauert habe, bis die Polizei zugriff. „Offen bleibt derzeit die Frage, warum die hessische Polizei nicht sofort die zuständigen Anti-Terror-Einheiten des Bundes gerufen hat“, sagte der CDU-Innenpolitiker Marian Wendt.

Der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Mathias Middelberg (CDU), sagte, er sehe „eine ganz klare Mitverantwortung“ der AfD für die rechtsextremistisch motivierten Anschläge der vergangenen Monate. Sie habe zu einer Radikalisierung in der Gesellschaft beigetragen und solle sich jetzt „nicht herausreden“. Die Abgeordnete Martina Renner (Linke) gab der AfD und der islamfeindlichen Pegida-Bewegung aus Dresden eine Mitverantwortung. Sie hätten „die Opfer markiert“, die dann von Neonazis und bewaffneten Rassisten ermordet worden seien.

Der 43-jährige Tobias R. besaß eine Waffenerlaubnis. Abgeordnete der Union regten an herauszufinden, ob die Vorschriften zur Überprüfung von Waffenbesitzern in den Ländern richtig umgesetzt werden. Vorher sei es nicht sinnvoll, über eine Verschärfung des Waffenrechts zu sprechen, sagte die Ausschussvorsitzende Andrea Lindholz (CSU).

Die Polizei fand nach Angaben von Teilnehmern der Sitzung drei Schusswaffen: eine Ceska, die er sich bei einem Waffenhändler aus der Umgebung geliehen habe, lag demnach im Auto. Seine zwei eigenen Waffen - eine Walther und eine Sig Sauer - sein in der Wohnung entdeckt worden. Eine lag dem Bericht zufolge bei der Leiche von Tobias R., eine weitere an einem anderen Ort in der Wohnung. Die Abgeordneten erfuhren, der Todesschütze habe insgesamt 52 Schuss abgegeben. Im Wagen lagen noch 18 weitere Patronen. In einem Rucksack in seinem Zimmer fanden Ermittler demnach später noch 350 Patronen. Tobias R. litt offensichtlich unter Wahnvorstellungen. Er hatte im November 2019 ein Schreiben an den Generalbundesanwalt geschickt, in dem er erklärte, er werde illegal überwacht.

Die Sondersitzung des Innenausschusses begann mit einer Gedenkminute für die Opfer des Anschlags. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) sagte, es gebe aktuell eine „hohe Bedrohungslage“ durch Rechtsextremismus, Antisemitismus und Islamfeindlichkeit. Er sei jetzt im Gespräch mit islamischen Gemeinden dazu, wie Moscheen am besten geschützt werden könnten. Helge Lindh (SPD) schlug die Benennung eines Anti-Rassismus-Beauftragten der Bundesregierung vor. Seehofer sagte nach Angaben von Petra Pau (Linke), er selbst sei der oberste Anti-Rassismus-Beauftragte.

Die Polizei stuft derzeit bundesweit 59 Menschen als rechtsextremistische Gefährder ein. Das sind Menschen, denen man eine schwere staatsgefährdende Straftat zutraut, bis hin zu einem Anschlag. Weitere 126 Menschen gelten als „relevante Personen“ im rechtsextremen Spektrum.

Die Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen schrieb in einem Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), ein Viertel der Bevölkerung habe einen Migrationshintergrund und fürchte nun „um seine Unversehrtheit, um seine Zukunft und die seiner Kinder“. Sie forderte mehr Teilhabe für Menschen mit Einwanderungsgeschichte. Im Bundeskabinett sitze kein einziger Politiker, der eigene Erfahrungen mit Rassismus habe.

Mit Maschinenpistolen bewaffnete Einsatzkräfte der Polizei vor einem Kiosk am Tatort in Hanau-Kesselstadt. Foto: Uwe Anspach/dpa

Mit Maschinenpistolen bewaffnete Einsatzkräfte der Polizei vor einem Kiosk am Tatort in Hanau-Kesselstadt. Foto: Uwe Anspach/dpa

Zwei Polizisten und die Spurensicherung stehen am Tatort im Hanauer Stadtteil Kesselstadt. Foto: Andreas Arnold/dpa

Zwei Polizisten und die Spurensicherung stehen am Tatort im Hanauer Stadtteil Kesselstadt. Foto: Andreas Arnold/dpa

Die Spurensicherung geht in Richtung des Tatorts am Heumarkt. Foto: Andreas Arnold/dpa

Die Spurensicherung geht in Richtung des Tatorts am Heumarkt. Foto: Andreas Arnold/dpa

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Erstellt:
27. Februar 2020, 17:00 Uhr

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