Ladendiebstahl aus Verzweiflung

Lebensmüder Ex-Soldat entwendet Textilien, mit denen er gar nichts anzufangen weiß. Vor Gericht macht er einen eher verstörenden Eindruck.

Der Fall war für die Staatsanwältin eher ungewöhnlich. Symbolfoto: S. Cho/Pixabay

© Sang Hyun Cho auf Pixabay

Der Fall war für die Staatsanwältin eher ungewöhnlich. Symbolfoto: S. Cho/Pixabay

Von Hans-Christoph Werner

Backnang. Vor dem Schöffengericht ist ein 61-jähriger Ex-Soldat wegen räuberischen Diebstahls angeklagt. Nach knapp dreistündiger Verhandlung wird er zu einer Bewährungsstrafe von sechs Monaten wegen Diebstahls, Körperverletzung und Nötigung verurteilt.

Zur Tatzeit im Mai dieses Jahres befindet sich der Mann in einer schwierigen Lebensphase. In jungen Jahren hat er über die Bundeswehr studiert, den Abschluss als Diplom-Pädagoge und Einzelhandelskaufmann gemacht. Viele Jahre später muss er aus gesundheitlichen Gründen aus der Bundeswehr ausscheiden. Im Einzelhandel findet er ein neues Betätigungsfeld, ja ist sogar leitend tätig. Ab dem Jahr 2010 hilft er seiner Frau bei der Führung einer Hotelpension. Aber da ist es schon nicht mehr wie bisher. Seine Frau trennt sich von ihm, er zieht in den Süden, ist arbeitslos. Hin und wieder hat er Kontakt zu seinen erwachsenen Söhnen, aber ansonsten lebt er zurückgezogen. Eine Lungenembolie, die er überlebt, zeigt ihm die Zerbrechlichkeit des Lebens. Und irgendwie will er nicht mehr. Pläne, seinem Leben ein Ende zu setzen, tauchen immer wieder auf.

In der Verhandlung spricht er gar davon, dass er kein Recht mehr gehabt habe, weiterhin zu leben. Sich selbst verurteilend, will er verurteilt werden. In dieser Verfassung betritt er einen Lebensmittelmarkt. Verschiedene Aufnahmen einer Überwachungskamera werden in der Gerichtsverhandlung vorgeführt. Ohne genauer hinzuschauen, wählt der 61-Jährige unter bereitliegenden Textilien aus, greift schließlich zu einer Frauen-Stretch-Hose und einem T-Shirt. Wert der beiden Stücke: 40 Euro. Für Hose wie T-Shirt, so sagt der Angeklagte in der Verhandlung, hatte er keine Verwendung. Festen Schrittes streift er zwischen den Regalen umher, versteckt dabei die Ware in einem unbeobachteten Augenblick unter seinem Blouson. Im Kassenbereich wartet er auf eine günstige Gelegenheit, geht dann entschlossen durch.

Der ertappte Ladendieb will nur noch weg, doch die Flucht gelingt nicht

Doch ein Ladendetektiv hat den Mann schon länger beobachtet, hegt einen Verdacht. Aber der Angesprochene streitet alles ab. Er will nur weg. Die Begegnung der zwei Männer verlagert sich vor den Markt. Auf den Videoaufnahmen sieht man, wie der Detektiv den Ladendieb festhalten will. Der wiederum will rückwärtsgehend entkommen, schlägt mehrfach auf die Arme des Detektivs. Ein anderer Kunde unterstützt den Detektiv. Mit vereinten Kräften gelingt es beiden Männern, den Mann an der Flucht zu hindern. Als dieser die Aussichtslosigkeit seiner Lage realisiert – auch das sieht man auf den Aufnahmen – geht er in die Hocke, muss sich anlehnen, schlägt die Hände vors Gesicht. Die herbeigerufene Polizei nimmt den Fall auf.

Auch in der Gerichtsverhandlung macht der Angeklagte den Eindruck eines in seinen Grundfesten erschütterten Menschen. Er atmet schwer, blickt bei an ihn gerichteten Fragen an die Decke, runzelt die Stirn, äußert sich stockend, zum Teil unverständlich murmelnd. Und wenn er etwas über sich selbst sagt, dann spricht von „Versager“ und davon, dass er Schuld auf sich geladen habe, ohne dass im Einzelnen klar wird, auf was er das bezieht.

Die Staatsanwältin spricht in ihrem Plädoyer von einem ungewöhnlichen Fall und hat die These, dass der Angeklagte den Ladendiebstahl nur begangen habe, um seine innerliche Leere zu füllen. Bei der rechtlichen Würdigung der Tat bleibt sie dabei: Es war räuberischer Diebstahl. Mit sieben Monaten auf Bewährung sei die Tat zu ahnden. Die Verteidigerin des Angeklagten betont die schlechte Verfassung ihres Mandanten zur Tatzeit. Und sieht die Sache, in juristischen Kategorien gesprochen, als Diebstahl und versuchte Körperverletzung. Deshalb entsprechend geringer zu bestrafen. Sie nennt fünf Monate auf Bewährung. Das letzte Wort des Angeklagten offenbart nochmals die Seelenlage des Angeklagten: „Wenn ich genau wüsste, wie ich weitermachen soll...“ Nach kurzer Beratung urteilt das Schöffengericht: sechs Monate auf Bewährung. Wegen Diebstahl, Körperverletzung und Nötigung. Mit diesem Schuldspruch rückt das Gericht von der ursprünglichen Anklage ab. Der Vorwurf des räuberischen Diebstahls, so erklärt der vorsitzende Richter, ist nur bei sogenannter Besitzerhaltungsabsicht, das heißt bei dem unbedingten Bestreben, im Besitz der Beute zu bleiben, aufrechtzuerhalten. Die Aufnahmen der Überwachungskamera zeigten aber, dass der Angeklagte sich um das Diebesgut nicht weiter kümmerte. Eher zufällig, so hatte ein Zeuge angegeben, rutschte das Entwendete bei dem Gerangel unter dem Blouson des Ertappten hervor.

Bewährungshelfer, Therapie und gemeinnützige Arbeit sollen helfen

Um den Verurteilten in seinen Bemühungen um die Ordnung seines Lebens zu unterstützen, erließ das Schöffengericht Bewährungsauflagen. Ein Bewährungshelfer soll den Mann drei Jahre begleiten. Eine bereits in Ansätzen begonnene Psychotherapie soll zu Ende geführt werden. Und 40 Stunden gemeinnützige Arbeit soll er leisten. Denn, so der Richter: „Sie können etwas.“ Weil die Staatsanwältin wie die Verteidiger auf Rechtsmittel verzichten, ist das Urteil sofort rechtskräftig.

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Erstellt:
6. Dezember 2021, 06:00 Uhr

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