Lancaster zerschellte im Wald von Sechselberg

Vor 80 Jahren steuern 863 britische Bomber Stuttgart an. Es ist der bis dahin größte Nachtangriff auf eine deutsche Stadt. 37 Flugzeuge stürzen ab, eines davon auf den Hohenstein beim Weiler Gallenhof. Von sieben Insassen kommen fünf ums Leben. Der Heimatkulturverein stellt jetzt eine Gedenktafel auf.

Jörg Mezger (rechts) übergibt an den Vereinsvorsitzenden Markus Frank kleine Wrackteile der Lancaster an der Absturzstelle. Diese befindet sich am Waldparkplatz in der Hohensteinstraße in Sechselberg unterhalb des Hohensteins, des mit knapp 573 Metern höchsten Bergs im Murrhardter Wald. Mit dabei sind Julie Faust sowie Rolf Rau vom Heimatkulturverein Althütte. Foto: Alexander Becher

© Alexander Becher

Jörg Mezger (rechts) übergibt an den Vereinsvorsitzenden Markus Frank kleine Wrackteile der Lancaster an der Absturzstelle. Diese befindet sich am Waldparkplatz in der Hohensteinstraße in Sechselberg unterhalb des Hohensteins, des mit knapp 573 Metern höchsten Bergs im Murrhardter Wald. Mit dabei sind Julie Faust sowie Rolf Rau vom Heimatkulturverein Althütte. Foto: Alexander Becher

Von Florian Muhl

Althütte. „Verrostete Metallstücke, Teile der Bombenaufhängung, einige Blechstücke, Kühlrippen von einem der Sternmotoren, Kabelummantelungen und Hülsen vom Bordmaschinengewehr – das ist alles, was vom Flugzeugwrack übrig geblieben ist“, sagt Jörg Mezger und hält eine Obstkiste mit den Teilen in der Hand. Der 59-jährige Hobbyhistoriker aus Markgröningen arbeitet die Luftangriffe des Zweiten Weltkriegs im Großraum Stuttgart auf, so auch den in der Nacht vom 15. auf den 16. März 1944 (siehe Infotext). Damals war eine neue Avro Lancaster Mk II in Sechselberg im Wald beim oberen Gallenhof abgestürzt, die erst 26 Betriebsstunden aufwies.

An Bord waren sieben englische Soldaten, von denen fünf beim Absturz ums Leben gekommen sind. Die Verstorbenen wurden zunächst auf dem Sechselberger Friedhof in einem Massengrab beigesetzt. Seit 1948 ruhen sie auf dem Soldatenfriedhof in Dürnbach beim Tegernsee in Frieden. Sergeant Lawrence Casey und Sergeant Reginald Favager konnten noch rechtzeitig mit dem Fallschirm abspringen und überlebten so den Absturz, wurden aber bei ihrer Flucht in Richtung Rudersberg von der Gestapo geschnappt, gerieten in Kriegsgefangenschaft und wurden in einem Lager in Niedersachsen untergebracht.

Julie Faust hat die Initiative ergriffen, die Gedenktafel aufzustellen

Bei einem Treffen vor Ort an der Absturzstelle mit Mitgliedern des Heimatkulturvereins Althütte übergibt Jörg Mezger die Wrackteile zu treuen Händen an den Vorsitzenden Markus Frank. Er und Julie Faust sowie Rolf Rau haben sich hier in der Hohensteinstraße auf dem Waldparkplatz zum Pressetermin getroffen, um über den Absturz und ihr Vorhaben zu informieren. Am 16. März jährt sich das Unglück zum 80. Mal. Aus diesem Anlass wird der Heimatkulturverein an diesem Tag eine Gedenktafel aufstellen, zum Gedenken an die sieben abgestürzten Soldaten, aber auch „an alle Menschen, die im Krieg gelitten haben und gestorben sind“, sagt Julie Faust.

Sie war es, die die Initiative ergriffen hatte. „Ich habe von dem Absturz gehört, als ich nach Althütte gezogen bin.“ Das war 2017, erzählt die 71-Jährige, die ursprünglich aus Wales kommt. Wegen ihrer Tätigkeit als Übersetzerin ist sie vor sieben Jahren nach Deutschland gekommen. „Ich war neu in Althütte, habe niemanden gekannt, habe mich schon immer für Geschichte interessiert, da habe ich gedacht, da schau ich mal rein.“ Der erste Kontakt zum Heimatkulturverein verlief erfreulich. So ist Julie Faust dabei geblieben und ist mittlerweile auch Mitglied.

Nach dem Absturz der Lancaster beim oberen Gallenhof zog sich eine 170 Meter lange und 20 Meter breite Schneise durch den Wald, von der heute nichts mehr zu sehen ist. Am Wrack des britischen Bombers ist das Heckrad zu erkennen. Das Foto hat ein 14-jähriger Junge aus Waldenweiler am Tag nach dem Unglück gemacht. Foto: K. Heinrich, Repro: Alexander Becher

© Alexander Becher

Nach dem Absturz der Lancaster beim oberen Gallenhof zog sich eine 170 Meter lange und 20 Meter breite Schneise durch den Wald, von der heute nichts mehr zu sehen ist. Am Wrack des britischen Bombers ist das Heckrad zu erkennen. Das Foto hat ein 14-jähriger Junge aus Waldenweiler am Tag nach dem Unglück gemacht. Foto: K. Heinrich, Repro: Alexander Becher

Tief bewegt und ergriffen sei sie oft an der Absturzstelle vorbeigekommen. Der Grund? „Mein Vater war auch im Krieg. Das hätte mein Vater sein können.“ Aber mehr und mehr sei die Absturzstelle zugewachsen. „Vor zwei Jahren im Winter hab ich nichts mehr gefunden. Das war alles total zu und verwahrlost. Und da hab ich gedacht, da muss man was machen.“

Sohn des überlebenden Heckenschützen ausfindig gemacht

Beim Heimatkulturverein rannte Julie Faust mit ihrer Idee offene Türen ein. „Wir beteiligen uns zum Beispiel auch an der Kranzniederlegung zum Volkstrauertag mit zwei Fahnenträgern“, sagt Markus Frank. „Wir wollen nicht einseitig gedenken, sondern betrachten das Thema aus historischem Hintergrund ganzheitlich und kümmern uns um die Themen, die in unserer Geschichte passiert sind“, so der 61-Jährige weiter. Der Ruheständler hat den Verein, den es seit 2016 gibt und der inzwischen rund 100 Mitglieder hat, mit gegründet und ist – von Beginn an – dessen Vorsitzender.

Weitere Themen

Drei Jahre vor der Vereinsgründung, es war am 3. September 2013, war es bereits zu einem besonderen Treffen an der Absturzstelle gekommen. Bei seinen Recherchen hatte Jörg Mezger nämlich Michael „Mike“ Casey, den Sohn des überlebenden Heckschützen Lawrence Casey, in Leeds in England ausfindig gemacht. Der damals 62-jährige Mike Casey hatte seinen Vater allerdings nie kennenlernen können. Kurz nach seiner Geburt war der Vater im Jahr 1952 in Kanada, wohin die Familie ziehen wollte, auf tragische Weise ums Leben gekommen. Im Sommer 2013 ließ es sich Mike Casey nicht nehmen, nach Althütte zu kommen, um an der Absturzstelle – zusammen mit Jörg Mezger und Bürgermeister Reinhold Sczuka – tief bewegt ein kleines Kreuz aufzustellen und eine kleine Erinnerungstafel, die mittlerweile aber verwittert und kaum mehr lesbar ist.

Kontakte wurden wiederhergestellt

Jetzt hatte Julie Faust versucht, wieder Kontakt zu Mike Casey aufzunehmen. Doch zunächst vergeblich. Auf E-Mails kam keine Antwort. Dann aber doch der Erfolg: Über die Ahnenforschungsseite My Heritage hat sie den Gesuchten tatsächlich finden können. „So sind wir in Verbindung gekommen“, sagt die 71-Jährige strahlend.

Auch den Kontakt zu Jörg Mezger hat Julie Faust wiederherstellen können. Keine Frage für den Hobbyhistoriker, dass er bei dem neuen Vorhaben des Heimatkulturvereins wieder dabei ist. Am Samstag, 16. März, will er im Rahmen der Enthüllung der Gedenktafel auch ein paar erläuternde Worte zum geschichtlichen Hintergrund sprechen. Woher sein Interesse an den Luftkämpfen im Zweiten Weltkrieg kommt? „Ich war mal Fallschirmspringer bei der Bundeswehr“, antwortet Mezger spontan. „Und irgendwann hab ich mal einen Zeitzeugen getroffen, einen alten Heimatforscher, der mir gesagt hat: Da hinten im Wald ist mal ein Flugzeug abgestürzt.“ Aus Interesse hatte der Technische Betriebswirt die Stelle aufgesucht, dort einige Teile gefunden und auch andere Interessierte entdeckt. „Aber man hat dann festgestellt: Vieles weiß man gar nicht mehr. Zeitzeugen gibt es nicht mehr oder jeder erzählt was anderes.“

Nur der Heckschütze Lawrence Casey (Zweiter von links) und der Funker Reginald Favager (Dritter von rechts) überlebten den Absturz. Der Pilot James Menzies Rodger (Dritter von links), der Navigator Charles Baker, der Flugingenieur Nicholas Capstick, der Bombenschütze Ronald Werrett und der MG-Schütze Anthony Jory kamen ums Leben. Repro: Alexander Becher

Nur der Heckschütze Lawrence Casey (Zweiter von links) und der Funker Reginald Favager (Dritter von rechts) überlebten den Absturz. Der Pilot James Menzies Rodger (Dritter von links), der Navigator Charles Baker, der Flugingenieur Nicholas Capstick, der Bombenschütze Ronald Werrett und der MG-Schütze Anthony Jory kamen ums Leben. Repro: Alexander Becher

Von der abgestürzten Maschine in Sechselberg weiß Jörg Mezger, dass sie auch gebrannt hat. „Das sieht man an den aufgeplatzten Patronen.“ Weil in solchen Fällen oft noch Munition hochgegangen sei, hätten Anwohner damals nicht gleich ans Wrack herangehen können. Aber später hätten sich viele bedient. „Aus den Fallschirmen hat man Blusen oder Hochzeitskleider genäht und aus dem Gummi der Räder hat man sich Schuhsohlen gemacht. Auch das Plexiglas und Metallteile wurden geholt. Nach dem Krieg war alles brauchbar“, sagt Mezger. Oft sei die Wehrmacht gekommen, habe die Stelle abgesperrt und habe das Wrack herausgezogen und abtransportiert, wegen der Wertstoffe. „Aber da lag dann trotzdem noch genug herum, die haben das ja nicht mit der Pinzette aufgelesen“, sagt Mezger. Und er fügt an: „Aber heute finden Sie da nichts mehr.“

30, 40 Jahre habe man sich gar nicht mit dem Thema beschäftigt. „Jetzt sind die Archive, die in den 50ern, 60ern und 70ern geschlossen waren, wieder offen. Und so sind Bücher über das Thema geschrieben worden“, sagt der 59-Jährige. Der Mann aus Markgröningen holt aus seinem Auto einen dicken Wälzer in englischer Sprache. „Da sind alle Abstürze von 44 drin, nur die Engländer. Da sind ungefähr 3000 bis 4000 Flugzeuge aufgeführt.“ Auch die Absturzstellen werden genannt und namentlich die verstorbenen oder überlebenden Besatzungsmitglieder, wenn bekannt. „Über Sechselberg steht nur drin, dass die Toten in Dürnbach am Tegernsee liegen, aber sonst nichts.“

Enthüllung Am 80. Jahrestag des Absturzes des britischen Bombers in Sechselberg, am Samstag, 16. März, wird die neue, 75 mal 50 Zentimeter große Gedenktafel vom Heimatkulturverein Althütte enthüllt. Um
11 Uhr wird es eine kleine Zeremonie und kurze Wortbeiträge geben, so auch von Jörg Mezger. Aus gesundheitlichen Gründen kann Mike Casey nicht nach Deutschland kommen. Aus terminlichen Gründen kann Bürgermeister Reinhold Sczuka nicht dabei sein, aber sein Stellvertreter Thomas Kuntz.
Die Nacht zum 16. März 1944

Größter Luftangriff Der Luftangriff in der Nacht vom 15. auf den 16. März 1944 war der 17. auf Stuttgart und bis dahin auch der größte. 863 englische Bomber vom Typ Lancaster und Halifax mit britischer und kanadischer Besatzung sowie etliche Mosquito-Jagdbomber waren damals in England am frühen Abend von verschiedenen Flughäfen aus gestartet. „So ein Bomberstrom, der ist ungefähr 100 Kilometer lang“, sagt Jörg Mezger. „Die Bomber sind über Frankreich hereingekommen, dann am Bodensee entlang, haben im Hegau nach Norden abgedreht und sind hoch in Richtung Stuttgart.“

Zielmarkierungen Weil die Deutschen aber bei Villingen-Schwenningen und Herrenberg zuvor drei Pfadfindermaschinen abgeschossen und andere Pfadfinder abgedrängt hätten und zudem die Innenstadt künstlich vernebelt worden sei, habe es im Bomberstrom einige Verwirrung gegeben. Die Pathfinder Force (Pfadfindergruppe) war eine spezielle Formation innerhalb des Bomber Commands der britischen Royal Air Force, die im Zweiten Weltkrieg zum Einsatz kam. Sie war für die Zielmarkierung für die nachfolgenden Bomberverbände zuständig. „Die Pfadfinder sind die Maschinen, die die Bombenstellen markieren. Die hatten diese bunte Leuchtmunition dabei, im Volksmund Christbäume genannt.“ Aber nicht nur die Leuchtmarkierungen hatten gefehlt. Zusätzlich gab es Irritationen, weil relativ früh südlich von Stuttgart ein Bomber abgeschossen wurde, der brennend auf dem Boden lag. Nachfolgende Bomber seien davon ausgegangen, dass es sich um eine Markierung handeln würde, und hatten dort ihre Bomben abgeworfen. Das Bombardement mit Spreng-, Phosphor- und Stabbrandbomben begann um 23.20 Uhr. „Wenn die ersten werfen, werfen die anderen mit. Und dann entsteht so ein Rückwärtseffekt“, so Mezger.

Hölle So ist es dazu gekommen, dass letztlich die Filder-Ortschaften viel mehr getroffen worden snd als Stuttgart direkt. „Die Motoren von Hunderten von anfliegenden Flugzeugen klangen wie ein sich schnell nähernder Tornado. Ein Geräusch, das sich für immer in mein Gedächtnis einbrannte“, so ein Zeitzeuge, der damals in Echterdingen gewohnt hat. Und weiter: „Unser anfängliches Gefühl der Sicherheit durch die dicken Steinmauern des Kellers verflog schnell. Plötzlich gab es mehrere ohrenbetäubende Explosionen in dichter Folge, und die Lichter flackerten. Plötzliche und völlige Dunkelheit folgte. Wir alle erwarteten den Tod mit der nächsten Explosion.“ Es war die Hölle. Nach dem Angriff werden 88 Tote und rund 200 Verletzte in den Filder-Orten gezählt. Unzufrieden sind die Briten, denn aus ihrer Sicht ist der erzielte Schaden nur gering.

Gegnerische Verluste Wie Jörg Mezger berichtet, flogen die britischen Maschinen nach dem Bombenwurf über Stuttgart hinaus bis ungefähr Mundelsheim. „Hier wurde scharf gewendet und mit südwestlichem Kurs gings über das Elsass zurück, um dort dann in einen Nordwestkurs überzugehen, in Richtung England.“ Wegen der starken deutschen Nachtjagdabwehr habe es auch hohe Verluste bei den Briten gegeben. „Die Bomberflotte verlor bei diesem Einsatz 37 Bomber. Ungefähr 207 britische und kanadische Besatzungsmitglieder verloren ihr Leben. Weitere 60 gerieten in Gefangenschaft oder wurden interniert. Zudem wurden 63 Bomber beschädigt und mussten abgeschrieben werden.“

Absturz in Sechselberg „Weil die Lancaster Mk II hier relativ spät runterkam, kurz vor Mitternacht, vermute ich, dass sie von der deutschen Flak gegen 23.40 Uhr getroffen worden ist. In Kornwestheim/Ludwigsburg war die letzte Flak im nördlichen Bereich von Stuttgart“, berichtet Jörg Mezger. Die Maschine, die bereits ihre Bomben abgeworfen hatte, sei zunächst im Bomberstrom mitgeflogen, habe dann aber wohl angeschossen zu wenig Leistung gehabt, um über den Berg hinüberzufliegen. „Man muss sich das so vorstellen: Es ist Nacht, die Ortschaften sind alle verdunkelt, Verdunkelung war ja damals im Krieg Pflicht, dann haben die da oben nichts gesehen, weil unten kein Licht brannte, und dann sind die Berge gekommen.“ Viele Soldaten, die abgesprungen seien, hätten wegen der geringen Höhe keine Überlebenschance mehr gehabt. Jörg Mezger hatte die Absturzstelle schon vor zwölf Jahren besichtigt. „Von oben am Funkmast ging die Trümmerspur bis hier herunter zum Weg.“

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Erstellt:
7. März 2024, 06:00 Uhr

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