Landärzte werden immer weniger

Leben auf dem Land Zwar kann noch nicht von einer Unterversorgung gesprochen werden, aber gerade bei der Zahl der Hausärzte liegt der Raum Backnang deutlich unter dem Soll. Das hat verschiedene Gründe.

Für Kai-Alexander Dähmlow war es eine bewusste Entscheidung, im ländlichen Raum eine Praxis zu übernehmen. Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Für Kai-Alexander Dähmlow war es eine bewusste Entscheidung, im ländlichen Raum eine Praxis zu übernehmen. Foto: A. Becher

Von Lorena Greppo

Rems-Murr. In Filmen und Serien gibt es sie zuhauf, in der Realität gibt es sie nicht oft genug: Die Rede ist von Landärzten. Zwar betont das Sozialministerium Baden-Württembergs, dass es im Land bis heute keinen Bereich gebe, für den nach den Maßstäben der Bedarfsplanungsrichtlinie eine Unterversorgung festgestellt wurde. „Ungeachtet dessen zeichnet sich ein allgemeiner Ärztemangel vor allem im hausärztlichen Sektor ab. Niedergelassene Hausärzte haben zunehmend Schwierigkeiten, eine Nachfolge zu finden, einzelne lokale Versorgungsengpässe treten bereits heute auf“, heißt es auf Anfrage von der Pressestelle. Der Raum Backnang ist da ein Paradebeispiel: Die hausärztliche Versorgung liegt aktuell bei 85,4 Prozent des Solls. Vor fünf Jahren war dieser Wert noch bei 96,9 Prozent. Im Raum Waiblingen/Fellbach liegt er momentan bei 93,5 Prozent, im Raum Schorndorf bei 97,3 Prozent. Bei unter 75 Prozent spricht man von einer Unterversorgung. „Gefühlt stellt es sich anders dar“, sagt Jens Steinat, Sprecher der Ärzteschaft im Raum Backnang. Denn durch Zuzug und Überalterung der Bevölkerung in der Region sei die Situation prekärer, als es der Versorgungsgrad wiedergibt. In anderen Bereichen sieht es besser aus, so liegt etwa der kinderärztliche Versorgungsgrad im Rems-Murr-Kreis bei 110,3 Prozent. Dieser wird jedoch nur kreisweit erhoben. Bei den Zahnärzten steht der Raum Backnang mit 85,3 Prozent des Solls ebenfalls nicht sehr gut da, in Waiblingen/Fellbach (109,1 Prozent) und Schorndorf (107,9 Prozent) ist das Soll hingegen übererfüllt.

Je ländlicher die Region, desto mehr verschärft sich dieser Engpass. Kleinere Orte wie Spiegelberg und Großerlach stehen seit Jahren ganz ohne Hausarzt da. Um lokalen Unterversorgungen entgegenzuwirken, hat das Land ein Förderprogramm ins Leben gerufen (siehe Infobox). Derzeit gehören zehn Kommunen des Rems-Murr-Kreises zur Förderkulisse. Sechs Gemeinden zählen zu den akuten Fördergebieten (Aspach, Großerlach, Spiegelberg, Berglen, Auenwald, Kaisersbach) und vier Gemeinden zählen zu den perspektivischen Fördergebieten (Sulzbach an der Murr, Murrhardt, Welzheim, Alfdorf). Im ländlichen Raum kommen nämlich mehrere ungünstige Faktoren zusammen: Ein hoher Altersanteil bei den Ärztinnen und Ärzten sowie vergleichsweise viele Einzelpraxen gehören dazu. Hinzu komme eine schwächere Infrastruktur auf dem Land. Das unternehmerische Risiko einer Einzelpraxis erschwert zudem die Praxisübergabe, so die Erklärung des Ministeriums. Es gebe einen Trend zur Anstellung, Teamarbeit und Teilzeitarbeit. Viele junge Ärztinnen und Ärzte zieht es eher in Städte und Ballungsgebiete.

Die Vertrautheit ist größer

Einer, der es bewusst anders gemacht hat, ist Kai-Alexander Dähmlow. 2016 übernahm er eine Praxis in Murrhardt und modernisierte diese. „In meiner Ausbildung habe ich einiges darüber gelernt, wie die Dinge in einer Praxis laufen“, erklärt er. Die Übernahme habe ihn daher nicht sehr geschreckt. Die Modernisierung der Praxis habe er unter anderem mithilfe von Fördermitteln gestemmt. Sein Hauptbeweggrund sei jedoch gewesen, dass er und seine Familie hier mehr Ruhe und Verbindung zur Natur haben. Das sei ihm beim Aufwachsen der Kinder wichtig und Pendeln zu einem Job in der Großstadt sei nicht infrage gekommen. „Außerdem habe ich das Gefühl, dass man auf dem Land mehr bewirken kann. Wir verweisen nicht nur an Fachärzte, sondern haben eine Verbindung und Vertrautheit mit unseren Patienten.“

Auch Jens Steinat hebt als Vorteile den engeren Bezug zu den Patienten wie auch zu lokalen Vertretern der Politik hervor. „Hier ist man nicht einer unter vielen.“ Klar müsse man der Typ für diesen persönlichen, nahen Umgang sein. Er selbst genieße das. „Die Wege sind kurz. Wenn es ein Problem gibt, kann ich mal eben den Bürgermeister anrufen.“ Und die Umgebung biete viele schön Anblicke, etwa wenn er bei gutem Wetter für einen Hausbesuch nach Spiegelberg fahre. „Ich verstehe nicht, warum hier so wenige hinwollen.“ Es seien vor allem jene Ärzte, die selbst aus dem ländlichen Raum stammen, die sich hier niederlassen. Besonders schwer wiegt, dass mehr Ärzte in den Ruhestand gehen als junge Mediziner nachfolgen.

Viele schrecke das wirtschaftliche Risiko ab, weiß Steinat. Zudem falle in einer eigenen Arztpraxis viel Bürokratie an. Das habe sich in den vergangenen Jahren sogar noch verschlimmert, unter anderem durch die Digitalisierungsbestrebungen und die Datenschutzbestimmungen: „Die formalen Ansprüche sind immer größer geworden.“ Hier müsse die Politik dringend nachsteuern. Doch bei wichtigen Entscheidungen fehle oftmals die Einbeziehung der Basis. In der aktuell durch die Coronapandemie geprägten Lage komme dies noch deutlicher hervor. „Wir arbeiten weit über dem, was andere als erträglich bezeichnen würden. Das macht sehr mürbe“, schildert Steinat. Dähmlow berichtet, dass er vor einem Vierteljahr einen Patientenstopp machen und Interessenten abweisen musste.

Es gibt schon Verbesserungsansätze

Wie aber kann dem entgegengewirkt werden? Die Ärzte haben verschiedene Ansätze. „Die Anbindung mit verschiedenen Verkehrsmitteln ist ein wichtiger Punkt“, sagt Dähmlow. Die Infrastruktur müsse attraktiv gestaltet werden. Jens Steinat hebt hervor, dass die Wertschätzung für Ärzte sich verbessern müsse. Er beziehe das weniger auf die Finanzen, sondern vielmehr auf die Berücksichtigung der Arbeits- und Belastungslage. „Vieles ist völlig überreguliert und so zu langsam und zu bürokratisch.“ Das sei auch ein Grund, warum ein erster Versuch der Telemedizin in Spiegelberg nicht richtig funktioniert hat. Zudem habe gerade die ältere Bevölkerung Vorbehalte und Schwierigkeiten im Bereich der Digitalisierung. „Die Leute wollen den direkten Bezug. Das ist verständlich, künftig aber nicht mehr immer umsetzbar“, weiß der Mediziner. Daher sei regional umgesetzte Telemedizin ein guter Ansatz, um künftig mehr Fläche versorgen zu können.

Auch Praxisverbände und Zusammenschlüsse sehen Steinat und Dähmlow als sinnvolle Mittel an, um lokale Strukturen zu stärken. „Das ist vor allem dann hilfreich, wenn man so auch Fachärzte aufs Land bringt“, so Dähmlow. Allerdings sei man dadurch womöglich in der Therapiefreiheit eingeschränkt. Zudem, führt Steinat an, sind angestellte Ärzte an eine Wochenstundenzahl gebunden, sie könnten daher vom Arbeitspensum nicht mit einem selbstständigen Arzt gleichgesetzt werden. „In Backnang und Umgebung sind aber gewisse Konzepte schon in der Diskussion“, sagt er. Weiterbildungsverbünde etwa würden von den Ärzten in der Region gerne gesehen.

Finanzielle Unterstützung beim Wechsel aufs Land

Landesförderprogramm Um die ambulante medizinische Versorgung der Menschen flächendeckend zu sichern, hat das Sozialministerium Baden-Württemberg das Aktionsprogramm „Landärzte“ auf den Weg gebracht. Insgesamt 6,95 Millionen Euro stehen für das Förderprogramm zur Verfügung. Die finanzielle Unterstützung gilt für Fördergebiete im ländlichen Raum, in denen es heute schon Versorgungsengpässe gibt beziehungsweise perspektivisch geben kann. Eine Hausärztin oder ein Hausarzt erhält bis zu 30000 Euro Landesförderung, wenn er oder sie sich in einer ländlichen Gemeinde niederlässt, deren hausärztliche Versorgung nicht oder in naher Zukunft nicht mehr gesichert ist. Seit Beginn des Förderprogramms „Landärzte“ im Jahr 2012 wurden bis Ende 2019 mehr als 130 Ärztinnen und Ärzte mit 2,5 Millionen Euro finanziell unterstützt.

Vernetzung Kommunale Gesundheitskonferenzen sollen die Plattform zur Vernetzung der Akteure auf der kommunalen Ebene sein. Dies gilt unter anderem auch für die sektorenübergreifende Planung und Steuerung medizinischer Angebote, um Versorgungsengpässe zu vermeiden und knappe personelle Ressourcen effizient zu verteilen. Das Land hat die Einrichtung von Kommunalen Gesundheitskonferenzen, einschließlich Kreisstrukturgesprächen, mit insgesamt 1,75 Millionen Euro finanziell unterstützt. In allen Stadt- und Landkreisen des Landes sind seit 2019 Kommunale Gesundheitskonferenzen eingerichtet.

KV-Förderprogramm Für das Förderprogramm Ziel und Zukunft der Kassenärztlichen Vereinigung werden in der zweiten Kategorie vier Gemeinden im Raum Backnang als akute Fördergebiete ausgewiesen: Allmersbach im Tal, Aspach, Burgstetten und Kirchberg an der Murr. Die KV unterstützt in den ausgewiesenen Fördergebieten die Niederlassung freiberuflicher Ärzte und Psychotherapeuten sowie die Tätigkeit angestellter Ärzte in diesen Praxen, Kooperationen und Nebenbetriebsstätten. Das geschieht etwa durch eine Anschubfinanzierung für die Neugründung oder Übernahme einer Praxis oder einer Kooperation mehrerer Ärzte sowie durch einen monatlichen Zuschuss und gegebenenfalls Ausstattungskosten für Anstellungen.

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Erstellt:
24. Dezember 2021, 08:50 Uhr

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