Kretschmanns Corona-Appell: Mit der Pandemie leben lernen

dpa/lsw Stuttgart. Die Landesregierung warnt vor einer zweiten Corona-Welle und einer zu schnellen Rückkehr in die Normalität. Aber die Opposition erkennt im Kampf gegen das Virus Widersprüche.

Blick auf den Plenarsaal des Landtags von Baden-Württemberg. Foto: Marijan Murat/dpa

Blick auf den Plenarsaal des Landtags von Baden-Württemberg. Foto: Marijan Murat/dpa

Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat die Bürger auf einen langen Alltag mit dem Coronavirus eingeschworen. Eine schnelle Rückkehr zur Normalität werde es erst mit einem Impfstoff geben, sagte er bei seiner Regierungserklärung zur Corona-Krise am Mittwoch im Landtag in Stuttgart. Das werde viele Monate dauern. „Bis dahin werden wir die Pandemie nicht besiegt haben.“ Man könne lernen, mit der Pandemie zu leben und werde noch viele Monate weiter Abstand halten und Masken tragen müssen. Kretschmann sicherte aber zu, den Bürgern so viel Freiheit zu ermöglichen, wie der Schutz der Gesundheit es zulasse.

Erstmals seit Mitte März kam der baden-württembergische Landtag am Mittwoch wieder zu einer Plenarsitzung zusammen. Angesichts des grassierenden Coronavirus mussten die Abgeordneten aber besondere Regeln beachten - etwa 1,5 Meter Abstand halten. Im Plenarsaal wurde nur jeder zweite Platz belegt, dafür saßen die Parlamentarier auch auf der Besuchertribüne. Das Pult wurde nach jedem Redner desinfiziert. Die Landtagsverwaltung stellte einen Mundschutz zur Verfügung - im Sitzungssaal trug ihn jedoch kaum ein Abgeordneter.

Kretschmann verteidigte seinen bisherigen Kurs in der Krise. Er warnte am Mittwoch vor einer zu schnellen Öffnung. Wenn man zu viele Beschränkungen auf einmal aufhebe, habe man keine Chance, die Verbreitung des Virus zu kontrollieren. Der bisherige Erfolg sei zerbrechlich. Er habe zwar Verständnis für Einzelinteressen, müsse sich aber am Gemeinwohl und den Interessen des Landes orientieren. Kretschmann sagte, er sei beeindruckt von der Geduld und Disziplin der Menschen. Viele verhielten sich geradezu vorbildlich.

Kretschmann sieht das Land bei der Beschaffung von medizinischer Ausrüstung und Schutzkleidung auf einem guten Weg. Er bezeichnete das als „Knochenjob“. „Denn die ganze Welt sucht derzeit nach Schutzausrüstung und leider manchmal auch mit Wildwest-Methoden.“ Das Land habe in den vergangenen Wochen fast 20 Millionen Schutzmasken, Schutzanzüge, Brillen und Handschuhe beschafft und verteilt.

Der Grünen-Politiker rief zu mehr Solidarität in Europa auf. Man habe als erstes deutsches Land Patienten aus dem Elsass aufgenommen, als dort die Kliniken überlastet waren. „Dennoch müssen wir uns alle nach der Krise selbstkritisch fragen: Hätten wir nicht noch mehr für unsere Partner tun müssen, die in solche Not geraten sind?“ In der EU hätten nationale Reflexe wieder eingesetzt. Es irritiere ihn, wenn alte Debatten aus der Finanzkrise wiederholt würden, sagte er mit Blick auf die Eurobonds-Debatten. Wenn ein EU-Gründungsland wie Italien unverschuldet durch das Virus in schweres Fahrwasser gerate, müsse anders gedacht werden. Wenn Frankreich oder Spanien nicht auf die Beine kämen, treffe das auch die deutsche Wirtschaft.

FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke warf der Landesregierung einen Schlingerkurs in der Corona-Krise vor. Die Entscheidungen seien zunehmend fehlerhaft und widersprüchlich. Er warf angesichts sinkender Infektionszahlen und freier Intensivbetten zudem die Frage auf, ob die strikten Regeln des Lockdowns angemessen seien. Die Landesregierung könne nicht länger behaupten, dass man vor dem Kollaps stehe und erst am Anfang der Pandemie.

Widersprüche bei den Maßnahmen gefährden laut SPD-Fraktionschef Andreas Stoch die Akzeptanz der Maßnahmen in der Bevölkerung. Parlamentsrechte dürften nicht ausgehöhlt werden. Es brauche endlich wieder eine Debatte über richtig und falsch. „Die Gesundheit der Demokratie erhalten wir nur, indem wir sie nicht einschränken.“ Es reiche für die Landesregierung nicht mehr auf Sicht zu fahren. Die Bürger erwarteten von der Regierung keine Hexerei, aber einen Plan, eine Perspektive und eine Strategie.

AfD-Fraktionschef Bernd Gögel beklagte einen Verlust von Grundrechten im Kampf gegen das Virus. Kretschmann habe die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzt. Er müsse den Lockdown beenden, weil er das Land sonst in den Abgrund manövrieren werde. Gögel warf der Regierung auch Versäumnisse in der Vergangenheit vor. Der Lockdown hätte niemals eingeleitet werden müssen, wenn die Regierung rechtzeitig alle notwendigen Schutzmaßnahmen ergriffen hätte. Das Land habe etwa zu spät Schutzausrüstung besorgt.

Der parteilose Landtagsabgeordnete Heinrich Fiechtner wurde zu Beginn der Sitzung nach Zwischenrufen und Provokationen von der Sitzung ausgeschlossen. Er hatte zuvor kritisiert, dass der Parlamentarismus in Zeiten der Krise ausgehebelt werde. Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne) erteilte Fiechtner mehrere Ordnungsrufe, entzog ihm das Wort und schloss ihn schließlich aus der Sitzung aus. Der Ex-AfD-Politiker weigerte sich zu gehen - und ließ sich schließlich erst von der Polizei aus dem Saal führen. Auch die Abgeordneten Stefan Räpple und Wolfgang Gedeon hatten sich im Dezember 2018 nach mehreren Ordnungsrufen von der Polizei aus dem Landtag führen lassen.

Winfried Kretschmann (Grüne), Ministerpräsident von Baden-Württemberg, kommt zur Sitzung. Foto: Sebastian Gollnow/dpa

Winfried Kretschmann (Grüne), Ministerpräsident von Baden-Württemberg, kommt zur Sitzung. Foto: Sebastian Gollnow/dpa

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Erstellt:
29. April 2020, 02:11 Uhr

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