„Langzeitarbeitslose als Menschen sehen“

Erlacher Höhe: Grundsätzlich Lob, aber auch einiges an Kritik für aktuellen Gesetzesentwurf der Großen Koalition – „Darf kein Einfallstor für Niedriglöhne werden“

Die Wiedereingliederung von Langzeitarbeitslosen soll durch einen aktuellen Gesetzesentwurf der Großen Koalition deutlich verbessert werden. Wolfgang Sartorius und Anton Heiser vom Sozialunternehmen Erlacher Höhe begrüßen diesen Schritt ausdrücklich, üben aber auch Kritik an der Vorlage.

Langzeitarbeitslose müssen speziell gefördert werden, um den Weg zurück zum Arbeitsmarkt zu finden. Nicht immer ist das einfach oder klappt problemlos. Foto: Fotolia/timyee

© timyee - stock.adobe.com

Langzeitarbeitslose müssen speziell gefördert werden, um den Weg zurück zum Arbeitsmarkt zu finden. Nicht immer ist das einfach oder klappt problemlos. Foto: Fotolia/timyee

Von Silke Latzel BACKNANG. „Arbeit gehört zum Menschen wie zum Vogel das Fliegen“: Dieses Zitat von Martin Luther bringt für Wolfgang Sartorius, Vorstandsvorsitzender der Erlacher Höhe, das Thema sozialer Arbeitsmarkt auf den Punkt. „Der Arbeitsmarkt hat sich verändert, die Anforderungen an die Menschen sind gestiegen. Wer ihnen standhält, dem stehen alle Türen auf. Wer ihnen nicht standhält, der ist irgendwann auf HartzIV angewiesen.“ Speziell die sogenannten Langzeitarbeitslosen brauchen Förderungen, um wieder an den Arbeitsmarkt herangeführt werden zu können, so Sartorius. Der Vorstandsvorsitzende der Erlacher Höhe begrüßt daher den Gesetzesentwurf der Großen Koalition, durch den rund 150000 staatlich bezuschusste Jobs für Langzeitarbeitslose geschaffen werden sollen. Die neuen Stellen sollen fünf Jahre lang gefördert werden, wenn die Betroffenen mindestens seit sieben Jahren HartzIV beziehen. „Diese Frist erscheint uns allerdings sehr lang“, sagt Sartorius. „Wer sieben Jahre vom Arbeitsmarkt ,weg‘ war, dem wird der Wiedereinstieg sehr schwerfallen.“ Seiner Ansicht nach seien fünf Jahre als Zugangsvoraussetzung besser und eröffnen realistischere Chancen. Langzeitarbeitslose nicht auf Erwerbslosigkeit reduzieren Der aktuelle Gesetzentwurf sieht zudem vor, dass die Zuschüsse nur auf Mindestlohnniveau gezahlt werden, das liegt derzeit bei 8,84 Euro pro Stunde. Für Sartorius ein kritischer Punkt, denn viele Arbeitgeber müssten dadurch die Differenz zwischen Mindestlohn und ortsüblicher oder tariflicher Entlohnung selbst tragen. „Das neue Gesetz soll auf keinen Fall ein Einfallstor für Niedriglöhne werden. Denn auch ein sozialer Arbeitsmarkt braucht faire Löhne.“ Auch die Zugangsvoraussetzungen, wie etwa Schulungen oder Bewerbungstraining, könnten laut Sartorius eher Hemmnis oder Hindernis sein. „Wenn man einen Langzeitarbeitslosen hat, der motiviert ist, zu arbeiten, und man ihn dann ausbremst und ihm eine passende Stelle nicht geben würde, weil er nicht die erforderlichen Schulungen hat, könnte sich das auf die Motivation sehr negativ auswirken.“ Sartorius ist der Meinung, dass man Langzeitarbeitslose nicht nur als Menschen sehen darf, die, aus welchen Gründen auch immer, nicht arbeiten können, sondern „den Menschen in seiner Ganzheit erkennen muss, mit allen Fähigkeiten, die er hat“. Langzeitarbeitslos zu sein, grenze in vielerlei Weise aus: Man habe keine Kollegen, finde kaum sozialen Anschluss und spüre oft eine mangelnde Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Das bestätigt auch Anton Heiser, Abteilungsleiter der Ambulanten Hilfen Rems-Murr. „Wichtig ist immer, den Menschen nicht aus den Augen zu verlieren.“ Deshalb sei eine sozialversicherungspflichtige Förderung, wie der Gesetzesentwurf vorsieht, sehr wichtig. „Man muss sich das Leben wie ein Gebäude mit vier Säulen vorstellen: Arbeit und Leistung, soziale Kontakte, Körper und Gesundheit, Sinn und Kultur. Auf diesen vier Säulen ruht ein Dach. Sind alle Säulen ausgeglichen, ist das Dach und somit das Leben in Balance. Ist einer der Lebensbereiche nicht mehr ausgefüllt oder stabil, gibt es auch keine Balance mehr.“ Herr Schneider und Herr Winter (Namen von der Erlacher Höhe geändert) wissen, wovon Sartorius spricht. Beide sind seit rund zwölf Jahren arbeitslos, sie beziehen HartzIV. Die Männer blicken auf ein Leben voller Erfahrungen zurück, gute wie schlechte, beruflich wie privat. Schneider ist 56 Jahre alt und „verfügt über rund 27 Jahre Berufserfahrung in verschiedenen Bereichen“: Gastronomie, Stahl- und Metallbau. Er hat eine Ausbildung zum Anlagentechniker im Bereich Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik angefangen und war zuletzt bei einem Entsorgungsbetrieb als Gabelstaplerfahrer angestellt. „Gesellschaft besteht nicht nur aus Nobelpreisträgern“ „Früher habe ich mir keine Gedanken um die Rente gemacht, ich hab einfach gearbeitet, wo ich einen Job gefunden habe, oft auch ohne schriftlichen Arbeitsvertrag. Und dann ging alles plötzlich schief. Durch falsche Freunde bin ich mit Drogen und Alkohol in Berührung gekommen und süchtig geworden.“ Mehrmals versucht Schneider, zu entziehen, begibt sich beispielsweise in eine zweijährige Therapie, rappelt sich immer wieder auf und findet neue Jobs. Irgendwann aber streikt der Körper und auch die Psyche ist angeschlagen, ein Burn-out beendet seine letzte Festanstellung. Der 56-Jährige ist mittlerweile zu 50 Prozent schwerbehindert, hat starke Schmerzen in Rücken und Knie. „Ich bin mir bewusst, dass ich für die Arbeiten, die ich früher gemacht habe, nicht mehr vermittelbar bin.“ Die Erkenntnis ist für ihn nicht leicht, doch Schneider will etwas tun, er möchte arbeiten. Seit Ende 2017 ist er bei der Erlacher Höhe beschäftigt, arbeitet dort etwa sechs Stunden am Tag beziehungsweise 100 Stunden monatlich beim „EH-Mobil“ und gibt zusammen mit Kollegen Essen in verschiedenen Gemeindehäusern im Rems-Murr-Kreis an Bedürftige aus. „Die Arbeit mit Menschen tut mir gut, ich habe viel Spaß und es ist auch kein Problem, wenn ich mich mal 15 Minuten hinsetzen muss und eine Pause brauche. Das würde in einem ,normalen‘ Beruf vermutlich weniger akzeptiert werden.“ Als Langzeitarbeitsloser fühlt Schneider sich oft stigmatisiert, etwa bei der Wohnungssuche. „Hören die Vermieter, dass jemand HartzIV bezieht, geben sie die Wohnung oft nicht her.“ Auch der 43 Jahre alte Herr Winter teilt diese Erfahrung. Seine berufliche Laufbahn beginnt als Steinmetz, bald darauf kann er den Beruf aber durch eine Verletzung im Knie, ausgelöst durch einen Arbeitsunfall, nicht mehr ausüben. Fünfmal sei er bislang optiert worden, eine neue Kniescheibe würde vermutlich Linderung verschaffen. „Aber die Krankenkasse sagt, dass ich dafür noch zu jung bin.“ Ein Dilemma, denn mit 43 Jahren hätte er noch rund 20 Jahre Arbeit bis zur regulären Rente vor sich, schwere körperliche Tätigkeiten kann Winter aber nicht mehr verrichten. Bis zu seiner Arbeitslosigkeit habe er als Staplerfahrer gearbeitet, doch auch hier machen ihm seine gesundheitlichen Probleme so einen Strich durch die Rechnung. Winter, derzeit krankgeschrieben, arbeitet aber seit einiger Zeit in einem Tafelladen im Rems-Murr-Kreis. Sein Wunsch: gesund werden. „Dann könnte ich mir auch eine Tätigkeit als Hausmeister oder Ähnliches vorstellen.“ Für Wolfgang Sartorius ist es wichtig, das Thema Langzeitarbeitslose nicht zu ignorieren: „Wir müssen uns freimachen von der Illusion, dass unsere Gesellschaft nur aus Olympiasiegern und Nobelpreisträgern besteht.“

Zum Artikel

Erstellt:
28. August 2018, 06:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen