Mehr als drei Jahre auf der Walz

Zimmermann Manuel Stein aus Steinberg bereist mehrere Kontinente – Ein Gefühl unbändiger Freiheit

Schweiz, Schweden, Australien, Tasmanien, Neuseeland, Somalia, Äthiopien, Argentinien, Kanada, Libanon, Sierra Leone und immer wieder Deutschland – nur auf einem Kontinent war Manuel Stein nicht auf Wanderschaft: Asien. Was sich nach einer Weltreise anhört, ist die Herausforderung eines Wandergesellen, der sich im Oktober 2015 auf den Weg gemacht hat und nach mehr als drei Jahren vor ein paar Tagen wieder in seine schwäbische Heimat Steinberg zurückgekehrt ist.

Die Danakilwüste im Nordosten Äthiopiens ist einer der bizarrsten und heißesten Orte der Erde. „Dort stinkt es wie faule Eier“, sagt Manuel Stein. Foto: privat

Die Danakilwüste im Nordosten Äthiopiens ist einer der bizarrsten und heißesten Orte der Erde. „Dort stinkt es wie faule Eier“, sagt Manuel Stein. Foto: privat

Von Yvonne Weirauch

MURRHARDT. Durch einen Vortrag in der Berufsschule auf die Walz aufmerksam gemacht, hat sich Manuel Stein für die Gesellenzunft die „Freien Vogtländer Deutschlands“ (FVD) entschieden und den Stammtisch besucht. Einmal im Monat treffen sich die Freien Vogtländer Deutschlands im Backnanger Gasthof zur Eintracht. Die traditionelle Vereinigung von Bauhandwerkern hält dort ihr „Aufklopfen“ ab, eine Versammlung, bei der einheimische Wandergesellen auf Gesellen treffen, die schon länger auf der Walz sind. „Der Gasthof zur Eintracht ist eine sogenannte Bude. Da kann man einfach hingehen, wenn man sich als Geselle mal über eine Walz informieren möchte.“

An seinen Aufbruch vor mehr als drei Jahren kann sich Manuel Stein noch gut erinnern: Die Abreise wurde in seinem Heimatort gefeiert. Das große Abenteuer stand bevor. Als Ehrbarkeit hat Stein eine goldene Anstecknadel mit den Buchstaben FVD bekommen, die am eingeschlagenen Hemdkragen auf der Brust getragen wird.

Mit Ohrring auf die Wanderschaft festgenagelt

Ein weiteres Erkennungszeichen ist ein Ohrring im linken Ohr. Der 24-Jährige erklärt: „Ein Altreisender nagelt den Wandergesellen damit auf die Wanderschaft fest. Nageln ist in diesem Fall wörtlich gemeint, denn das Ohrloch wird traditionell mit einem Hammer und einem Nagel ins Ohr geschlagen, der Kopf liegt dabei auf einem Holzpflock.“ Es klingt ein bisschen martialisch, wenn darüber berichtet wird. Aber Manuel Stein lacht: „Betäubt wird das mit Schnaps.“ Eine volle Schnapsflasche wird vergraben, diese gräbt man bei der Heimkehr wieder aus und trinkt sie anschließend. Der Brauch will es so. Ein weiteres Ritual: über das Ortsschild klettern. Damit ist der Abschied besiegelt. Mindestens zwei Jahre darf sich der Wandergeselle seinem Heimatort nicht weiter als auf 50 Kilometer nähern.

Will er Familie oder Freunde sehen, müssen diese aus dem Bannkreis herauskommen, um ihn zu treffen. Nur im Notfall darf er nach Hause, etwa bei einem Todesfall. Im ersten Jahr soll der Wandergeselle die deutschsprachigen Länder bereisen, im zweiten Europa, dann steht ihm die Welt offen.

Sein spärliches Reisebündel hatte der Zimmermann, der bei der Murrhardter Holzbaufirma Elser seine Lehre abgelegt hat, gepackt: ein Schlafsack, wenige Hygieneartikel, Rasierer, ein Satz Arbeitskluft, vier Hemden und Unterwäsche für eine Woche. Keinen unnötigen Ballast mitschleppen. Der Wanderstab – der sogenannte Stenz – immer sein Begleiter. Die Kluft am Leib: Jacke, Schlaghose, Weste, weißes Hemd, ein Hut.

Vergleicht man Bilder vom Abschiedstag und das Erscheinungsbild heute, wird deutlich: Der junge Mann ist reifer geworden. Äußerlich die Haare länger und etwas dunkler, markantere Wangenknochen und ein Vollbart – „der kommt aber wieder ab“, sagt Manuel Stein. Bisher sei er zu faul gewesen, ihn abzurasieren. Gelassener wirkt er, entspannt, voll mit den Ereignissen der vergangenen Jahre. Was der junge Mann erlebt hat, haben schon viele vor ihm getan. Sie gingen nach ihrer Gesellenprüfung auf die Walz, auf Tippelei, auf Wanderschaft. Zu Fuß. Viel im Leben lernen, fremde Länder entdecken, von drängelnden Social-Media-Zwängen befreien, keine Scheu vor der Arbeit, Wind und Wetter ausgesetzt, freiwillig wenig besitzen und sich gelegentlich schief anschauen lassen.

Wieder zu Hause: Anfang August wurde Manuel Stein gebührend von Bürgermeister Armin Mößner empfangen. Die Tradition will es so, dass der Wandergeselle übers Ortsschild steigt. Foto: J. Fiedler

© Jörg Fiedler

Wieder zu Hause: Anfang August wurde Manuel Stein gebührend von Bürgermeister Armin Mößner empfangen. Die Tradition will es so, dass der Wandergeselle übers Ortsschild steigt. Foto: J. Fiedler

Auf den ersten Monaten der Walz werden die jungen Gesellen von erfahrenen Handwerkern begleitet, die schon eine Weile unterwegs sind. Von ihnen lernen sie, bekommen Adressen und Tipps. Beim Trampen auf Leute zugehen, Menschen ansprechen – das fiel Manuel Stein nicht immer leicht: „Aber man lernt das mit der Zeit.“ Beim Thema Kommunikation ist Stein auf die Hilfe von anderen angewiesen, er hat kein Auto, und auch ein Mobiltelefon besitzt er nicht. Das ist zum einen von den Wandergesellen so gewollt, zum anderen: „Ich habe kein Handy und möchte auch keins“, betont Manuel Stein. Er vermisst es nicht, ebenso wenig wie das Internet oder das Fernsehen. Eine EC-Karte oder Ähnliches – auch das gab es mehr als drei Jahre nicht. „Man lernt sehr schnell, mit wenigen Dingen auszukommen und dass nicht viel nötig ist“, sagt der Zimmermann.

Eine unbändige Freiheit habe er unterwegs verspürt. Viele Kontakte geknüpft, viel dazugelernt. Ob Schweden, Australien, Tasmanien, Neuseeland, Somalia, Äthiopien, Argentinien oder Kanada – landschaftlich hätten alle Länder ihre Reize, kulturell laufe vieles anders und die Mentalität könne man manchmal gar nicht in Worte fassen. Man merkt Manuel Stein nach seiner Rückkehr an, dass er sich in der Welt zu Hause erst noch einfinden muss. Zu stark sind noch die Eindrücke seiner Walz.

Die menschlichen Herausforderungen seien teilweise anstrengend gewesen, gibt der Handwerker zu. Die Zeit habe er sehr ernst genommen. Im Holzbauhandwerk habe er gesehen, dass Deutschland und die Schweiz „sehr weit vorne dran“ wären. „Ansonsten musste man improvisieren. Das hat mir aber gefallen. Da wird das Holz von Hand gesägt und nicht mit der Maschine, oder der Nagel eben noch von Hand ins Brett gehämmert.“

Drei Viertel seiner Wanderzeit soll der Reisende bei verschiedenen Meistern arbeiten und sein Handwerk festigen. „Wir sind selten irgendwo abgewiesen worden“, wird weiter berichtet. Aber man habe auch „von der Hand in den Mund“ gelebt. Manchmal habe es natürlich Momente gegeben, da wusste man morgens nicht, wo man abends schläft, wie der Weg weitergeht. „Aber es gab immer Möglichkeiten.“ Zugestoßen sei ihm nie etwas, sagt Stein. Wirklich verletzt oder krank sei er nie gewesen: „Bis auf einen gebrochenen Fuß, aber das war eigentlich nichts.“ Die Eltern eines anderen Wandergesellen hätten ihn gut versorgt.

Im Oktober geht es wieder nach Sierra Leone

Beeindruckt hat ihn neben vielen Erlebnissen ein ganz besonderer Ort: In Äthiopien liegt mitten in einer Salzwüste einer der heißesten Ort der Erde. „Es sprudelt pure Säure aus dem Boden und es stinkt wie verfaulte Eier.“ Die Danakilwüste im Nordosten Äthiopiens ist eine der bizarrsten Stellen der Erde. Die Hitze ist unerträglich. Tagsüber klettert das Thermometer auf über sechzig Grad, selbst nachts kühlt es kaum ab. Asphaltierte Straßen gibt es nicht: Sie würden in der glühenden Luft zerfließen.

Die Eindrücke und Erfahrungen, die Manuel Stein gesammelt hat, gilt es jetzt zu verarbeiten. Viele Freundschaften, die er unterwegs mit anderen Gesellen geschlossen hat, werden bleiben – vor allem eine Begegnung hat Manuel Stein ins Herz getroffen: Während der Walz hat er seine jetzige Freundin kennengelernt. Das Kuriose daran: Sie stammt auch aus Murrhardt, studiert derzeit in Bayreuth.

Bei seiner Rückkehr Anfang August waren viele seiner Kameraden dabei. „Es war ein schönes Gefühl, wieder nach Hause zu kommen“, sagt Manuel Stein. Die Schnapsflasche hat er bei seiner Ankunft wieder ausgebuddelt. Übers Ortsschild ist er auch wieder geklettert und von Bürgermeister Armin Mößner wurde er auch begrüßt. Bis Oktober ist Manuel Stein in Steinberg. Dann zieht es ihn wieder nach Sierra Leone, wo er bis Weihnachten bleiben wird: „Ich bin da mit ,den Grünhelmen‘ unterwegs. Die Organisation erweitert in Mansadu die Grundschule. Bei dem Bau helfe ich mit.“

Info
Die Schächte, Richtlinien und Bräuche

Wer sich für die Wanderschaft entscheidet, hat die Wahl zwischen einigen Gesellenvereinigungen, den Schächten. Darüber hinaus gibt es Freireisende. Sie sind an keine Richtlinien einer Zunft gebunden, halten sich aber meist an die Bräuche und tragen Kluft.

Die Gesellenzunft Freie Vogtländer Deutschlands, mit der Manuel Stein unterwegs war, hat sich 1910 aus einem Geheimbündnis reisender Bauhandwerker gegründet. Sie pflegt Regeln und Bräuche, die größtenteils noch aus dem Mittelalter stammen. Ihre Wanderzeit beträgt laut Brauch mindestens zwei Jahre und einen Tag. Sie tragen anstelle eines Schlipses eine goldene Anstecknadel am Hemdskragen.

Der Freie Begegnungsschacht hat einen grauen Schlips. Neben Bauhandwerkern können auch Gesellen jedes Handwerks für drei Jahre und einen Tag reisen.

Die Rolandsbrüder haben einen blauen Schlips als Ehrbarkeit. Sie sind drei Jahre und einen Tag auf Wanderschaft.

Die Rechtschaffenden Fremden, die sich in zwei Vereinigungen teilen (Zimmerer und Maurer), lassen sich bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen. Sie tragen einen schwarzen Schlips als Ehrbarkeit. Die Wanderzeit beträgt drei Jahre und einen Tag.

Die Fremden Freiheitsbrüder mit rotem Schlips wandern gute drei Jahre und einen Tag.

Die Mitglieder von Axt und Kelle tragen einen Ohrring mit den Insignien des Schachtes. Die Wanderzeit dauert mindestens zwei Jahre und einen Tag.

Die Gesellenvereinigung der Vereinigten Löwenbrüder und -schwestern ist eine Zunft speziell für Lebensmittelgewerke wie zum Beispiel Konditoren, Bäcker oder Brauer.

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Erstellt:
29. August 2019, 16:00 Uhr

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