Memet Kilic in Türkei wegen Beleidigung Erdogans angeklagt

dpa/lsw Berlin/Istanbul. Jedes Jahr gibt es Tausende Ermittlungen wegen Beleidigung von Präsident Erdogan in der Türkei. Jetzt hat es einen deutschen Politiker getroffen. Eine neue Eskalationsstufe?

Memet Kilic, Jurist und Politiker der Partei Bündnis 90/Die Grünen. Foto: Christoph Schmidt

Memet Kilic, Jurist und Politiker der Partei Bündnis 90/Die Grünen. Foto: Christoph Schmidt

Der Grünen-Politiker Memet Kilic ist in der Türkei wegen Beleidigung von Präsident Recep Tayyip Erdogan angeklagt worden. Die Oberstaatsanwaltschaft in Ankara stuft in ihrer Anklageschrift, die der Deutschen Presse-Agentur vorliegt, mehrere Aussagen von Kilic in einem Interview mit der türkischen Internetzeitung „ABC Gazetesi“ aus dem Juli 2017 als beleidigend für das Staatsoberhaupt ein.

Darin hatte Kilic unter anderem gesagt: „Der Schaden, den Erdogan der Türkei zugefügt hat, ist untragbar.“ Und weiter: „Ich bin als Politiker mit türkischen Wurzeln sehr traurig darüber, dass mein Land in diese Lage gebracht wurde und bezeichne diejenigen, die es in diese Lage gebracht haben, als Vaterlandsverräter.“ Die Anzeige hatte das Rechtsbüro des Generalsekretariats im Präsidialamt erstattet. Erdogan ist in der Klageschrift als Geschädigter aufgeführt.

Sevim Dagdelen, stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag sprach von einer „neuen Stufe der Eskalation“. Der Grünen-Politiker Cem Özdemir sagte, „Erdogans Wahn kennt keine Grenzen. Dass sein langer Arm bis nach Deutschland reicht, ist schon lange traurige Gewissheit. Dass dieser lange Arm nun aber auch nach Politikern greift, das hat eine neue furchtbare Qualität.“

Kilic (52), der die deutsche und die türkische Staatsbürgerschaft hat, gehörte von 2009 bis 2013 dem Bundestag an und arbeitet heute als Anwalt in Heidelberg. Er ist aber weiterhin politisch aktiv, unter anderem als Sprecher der Landesarbeitsgemeinschaft Migration und Integration der Grünen in Baden-Württemberg. Kilic ist nach eigenen Angaben in Karlsruhe und Ankara als Anwalt zugelassen. Er ist zudem stellvertretender Vorsitzender des Bundeszuwanderungs- und Integrationsrats.

Von der Anklage habe er vor einem Monat erfahren, weil sie einem in der Türkei lebenden Neffen zugestellt worden sei, sagte Kilic der dpa. Er selbst sei wegen möglicher Repressalien seit drei Jahren nicht in die Türkei gereist. „Dieses Regime versucht mich mundtot zu machen“, sagte er.

Dass ein Politiker wegen Präsidentenbeleidigung angeklagt wird, stellt für den davon betroffenen Kilic eine neue Dimension dar. „Das ist auf jeden Fall eine neue Eskalationsstufe aus meiner Sicht. Mir ist nicht bekannt, dass schon einmal ein deutscher Politiker in der Türkei angeklagt wurde.“ Linken-Politikerin Sevim Dagdelen forderte: „Die Bundesregierung muss diesen Angriff auf die Meinungsfreiheit in aller Deutlichkeit zurückweisen.“ Grünen-Politiker Cem Özdemir sagte: „Ich erwarte eine unmissverständliche Ansage an Ankara, dass wir diese Angriffe auf unsere Gesellschaft und Demokratie nicht dulden.“

Kilics Anwalt Veysel Ok sprach von einer Krise, „in der generell Menschen mit türkischen Wurzeln ihr Recht auf Meinungsfreiheit nicht ausüben können“. Er sagte der dpa: „Sowohl nach der türkischen Verfassung als auch der Europäischen Menschenrechtskonvention sind die Grenzen der Kritisierbarkeit für jemanden, der den Titel eines Präsidenten innehat, weiter als bei normalen Bürgern.“ „Politische Kritik“ an Erdogan als Beleidigung zu werten, widerspreche „sogar dem eigenen, regionalen Gesetz in der Türkei“.

Jedes Jahr gibt es Tausende ähnliche Fälle. Die Zahl der Klagen wegen Präsidentenbeleidigung habe zugenommen, seit Erdogan Präsident sei, sagte Ok. Vier Jahre und acht Monate Haft ist die Höchststrafe für Präsidentenbeleidigung in der Türkei.

Unter den Betroffenen sind ganz normale Bürger, Journalisten oder Oppositionspolitiker. Den Chef der Oppositionspartei CHP, Kemal Kilicdaroglu, traf es so oft, dass seine Kollegen zu Jahresanfang beschlossen, Geld zu sammeln, um mit den Strafen zu helfen. Aber auch Deutsche geraten wegen Äußerungen zu Erdogan immer wieder ins Visier.

Auch die in der Türkei bereits wegen Terrorvorwürfen verurteilte Sängerin Hozan Cane (Künstlername) muss sich inzwischen wegen Präsidentenbeleidigung verantworten. Die nächste Verhandlung ist ihrer Anwältin zufolge für den 16. September angesetzt. Anlass der Klage sei eine Karikatur von Präsident Erdogan, die jemand auf einer Facebook-Seite mit Canes Namen geteilt habe. Canes Tochter Gönül Örs war am Montag nach Wochen unter Ausreisesperre wegen Terrorvorwürfen in der Türkei ebenfalls verhaftet worden. Ihr werde vorgeworfen, einen illegalen Grenzübertritt versucht zu haben, wie ihre Anwältin sagte. Örs hat nach Angaben ihrer Anwältin die deutsche und die türkische Staatsbürgerschaft.

Wegen Terrorvorwürfen muss sich am Mittwoch erneut der Österreicher Max Z. verantworten. Der Prozess wird in der Hauptstadt Ankara fortgesetzt. Z. war im September 2018 festgenommen worden und saß drei Monate in Untersuchungshaft. Inzwischen ist er zwar auf freiem Fuß, darf das Land aber nicht verlassen.

Das Auswärtige Amt mahnt bereits seit längerem in seinen Reisehinweisen für die Türkei zur Vorsicht: „Festnahmen und Strafverfolgungen deutscher Staatsangehöriger erfolgten vielfach in Zusammenhang mit regierungskritischen Stellungnahmen in den sozialen Medien“, heißt es dort. Ausreichend sei im Einzelfall das Teilen oder „Liken“ eines fremden Beitrags entsprechenden Inhalts.

Memet Kilic ist für Dezember zu einer Anhörung in Ankara geladen. Ob er den Termin wahrnimmt, hat er noch nicht entschieden. „Ich spiele mit dem Gedanken dort hinzureisen, und meine Meinung zu sagen“, sagt er. Er sei sich aber auch bewusst, dass er möglicherweise festgenommen werden könnte.

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Erstellt:
10. September 2019, 16:23 Uhr

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