Die stille Wut im Ohr
Misophonie: Wenn Alltagsgeräusche zur Belastung werden
Ob Kauen, Schmatzen oder Atmen – für Menschen mit Misophonie können Alltagsgeräusche zur Qual werden. Eine Expertin erklärt das Phänomen – und wie Betroffenen geholfen werden kann.

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Misophonie zeigt sich in der Regel erstmals im Kindes- oder Jugendalter (Symbolfoto).
Von Gülay Alparslan
Sie sitzen beim Essen – mit der Familie, Freunden oder im Kollegenkreis. Eigentlich möchten Sie Ihre Mahlzeit genießen, doch da ist dieses eine Geräusch, das Sie stört: ein Kauen, Schmatzen, Schlürfen oder Atmen. Frust steigt in Ihnen auf, vielleicht sogar Wut. Am liebsten würden Sie sagen, die Person solle das doch bitte endlich unterlassen.
Kommt Ihnen das bekannt vor? Dann leiden Sie womöglich unter Misophonie, einer besonderen Form der Geräuschempfindlichkeit. Laut Forschern der Universität Bielefeld sind etwa fünf Prozent der deutschen Bevölkerung davon betroffen.
Misophonie ist keine Krankheit im klassischen Sinne. In medizinischen Diagnosekatalogen wie der ICD-11 (internationales Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation für Krankheiten) wird sie bislang nicht als eigenständige Störung aufgeführt. Vielmehr handelt es sich um eine neurologisch und emotional geprägte Reaktion auf bestimmte alltägliche Geräusche, wie etwa Schmatzen, Schlucken oder das Fußwippen. Diese sogenannten Auslöser können bei Betroffenen intensive Emotionen wie zum Beispiel Wut oder Stress auslösen.
Dabei unterscheidet sich Misophonie deutlich von ähnlichen Störungen wie Hyperakusis, einer Überempfindlichkeit gegenüber Lautstärke, oder Phonophobie, bei der eine übermäßige Angst vor bestimmten Geräuschen besteht. Für Menschen mit Misophonie wird der ganz normale Alltag zur Herausforderung. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass der Anteil der Betroffenen je nach Studie und Untersuchungsmethode unterschiedlich ausfallen kann.
Misophonie ist dem Tinnitus ähnlich
Was genau Misophonie auslöst, ist noch nicht genau erforscht. „Es ist eine sehr individuelle Störung“, erklärt Dr. Petra Beyer-Niesen, Fachärztin für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde und Psychotherapeutin in Hamburg. Sie hat sich auf die Behandlung von Tinnitus und Misophonie spezialisiert und verbindet dabei medizinische Expertise mit psychotherapeutischen Ansätzen. Seit Januar 2022 arbeitet sie ausschließlich als Psychotherapeutin mit den Schwerpunkten Tinnitus, Misophonie und Stressmanagement und hat mittlerweile mehr als 900 Misophonie-Patientinnen und -Patienten behandelt.
„Misophonie zeigt sich in der Regel erstmals im Kindes- oder Jugendalter – oft zwischen neun und elf Jahren“, so die Expertin. Häufig werden gerade familiäre Alltagssituationen, wie die Essgeräusche von Eltern oder Geschwistern, als besonders belastend empfunden, erklärt sie. „Die Kinder suchen dann am Esstisch geradezu nach dem Auslöser. Das macht sie so wütend, dass sie schimpfen, böse Blicke zuwerfen oder ausrasten.“ Bei vielen Betroffenen entwickele sich daraus eine langfristige Empfindlichkeit, die sich teilweise bis ins Erwachsenenalter ziehe.
„Die ersten Fälle kamen zu mir, als ich noch hauptsächlich Tinnitus-Patientinnen und -Patienten behandelt habe. Die Misophonie ist dem Tinnitus ähnlich, denn in beiden Fällen wird ein Geräusch emotional negativ bewertet“, erklärt Petra Beyer-Niesen. Und eigentlich sei die Misophonie ja eine Kinder- und Jugenderkrankung. „Aber der Kinderarzt hat damit wenig zu tun, der HNO-Arzt eigentlich auch nicht, und der Neurologe ebenfalls kaum“, so die Medizinerin. Misophonie-Patientinnen und -Patienten fielen genau zwischen die Fachgebiete. Auch Psychotherapeuten würden die Misophonie häufig nicht kennen.
Für Betroffene sind alltägliche Situationen eine Herausforderung
Für Betroffene bedeute Misophonie eine erhebliche Belastung, die sich im Erwachsenenalter sogar verstärken könne – etwa wenn eine Beziehung enger wird. Interessanterweise treten die Symptome in der Phase der frischen Verliebtheit oft vorübergehend in den Hintergrund – ähnlich wie beim Tinnitus – weiß Beyer-Niesen. „Aber das kann ich natürlich nicht verordnen“, sagt die Medizinerin schmunzelnd.
Ob beim Essen oder in der U-Bahn – Misophoniker suchten häufig unbewusst nach auslösenden Geräuschen wie Kauen oder Schnäuzen. Die daraus entstehende Wut richte sich selten nach außen, sondern belaste vor allem die Betroffenen selbst. „Manche weinen sogar in meinen Sitzungen, weil sie ihre Reaktionen nicht nachvollziehen können.“
Die genaue Ursache ist bisher nicht geklärt, doch Petra Beyer-Niesen hat eine Theorie: „Stellen Sie sich vor, ein Kind kommt genervt von der Schule nach Hause – vielleicht, weil es eine schlechte Note bekommen hat. Beim Essen sitzt es dann einem Familienmitglied gegenüber und nimmt plötzlich jedes Geräusch und jede Bewegung viel intensiver wahr. Diese Wahrnehmung verknüpft sich mit der inneren Anspannung – und diese Verknüpfung bleibt dann dauerhaft bestehen.“
Misophonie keine offiziell anerkannte Diagnose
In der Regel lasse sich Misophonie gut behandeln. Petra Beyer-Niesen kombiniert dabei kognitive Verhaltenstherapie mit individuell abgestimmten Trainingssituationen. „Ich versuche, die Emotion vom Geräusch zu entkoppeln. Die Kontrolle über das Geräusch ist es, die es so schlimm macht – wenn man sie loslässt, wird es besser.“ Meist reichen vier Sitzungen, ergänzt durch praktische Übungen und Aufgaben für den Alltag, sagt sie.
Eine belastbare Statistik hat die Ärztin nicht, da sich viele Patientinnen und Patienten nach Abschluss der Therapie nicht mehr zurückmelden würden. Das wertet sie jedoch eher als gutes Zeichen: „Wenn ein Tumor erfolgreich entfernt wurde, ruft hinterher ja auch niemand mehr in der Klinik an.“ Aus den Rückmeldungen, die sie erhält, schätzt sie die Erfolgsquote auf bis zu 80 Prozent. „Ich bringe den Patienten bei, wie sie mit ihrer Wut umgehen, denn das wollen sie ja. Niemand ist gerne wütend.“
Da Misophonie keine offiziell anerkannte Diagnose ist, übernehmen Krankenkassen die Behandlungskosten nicht – die Patientinnen und Patienten müssen diese selbst tragen. „Das führt oft dazu, dass sie engagierter mitarbeiten“, berichtet die Ärztin. „Sie sagen: ‚Jetzt habe ich so viel Geld hingelegt, jetzt muss das auch klappen’.“
Petra Beyer-Niesen hat ein eigenes Schulungsprogramm entwickelt, das sie sowohl in ihrer Praxis in Hamburg als auch online anbietet. Ihre Patientinnen und Patienten kommen aus ganz Deutschland, aus Österreich oder der Schweiz. Selbst aus England oder aus Frankreich hätten sich bereits Betroffene bei ihr gemeldet. Sie halte auch Therapiestunden auf englisch, sagt sie.
Misophonie ist gut therapierbar
„Misophonie ist gut therapierbar, wenn man diszipliniert ist und den Willen zur ‚Umstrukturierung‘ hat“, erklärt die Ärztin. Es hänge jedoch auch immer von der Lebenssituation, dem Alter und weiteren Faktoren ab. Ob sie ganz verschwindet, sei eine andere Geschichte. „Ich glaube, man lernt, damit umzugehen“, sagt Petra Beyer-Niesen.
Wenn Patientinnen und Patienten wieder in Stresssituationen geraten, könne die Misophonie durchaus wieder aufflackern. „Aber dann wissen sie, wie sie damit umgehen können – und genau das nimmt ihnen die Angst.“