Nach der Flucht kommt der Schulalltag

In den hiesigen Schulen nehmen die ersten Kinder und Jugendlichen, die aus der Ukraine geflohen sind, am Unterricht teil. Die Konzepte sind im Moment individuell von der Schule und den ankommenden Kindern abhängig. An der GMS in der Taus gibt es sogar eine ukrainische Lehrerin.

Zeichen des Friedens und der Völkerverständigung: Dieses Banner haben Schüler der Gemeinschaftsschule in der Taus gestaltet und an die Fassade der Schule gehängt. Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Zeichen des Friedens und der Völkerverständigung: Dieses Banner haben Schüler der Gemeinschaftsschule in der Taus gestaltet und an die Fassade der Schule gehängt. Foto: A. Becher

Von Nicola Scharpf

Backnang/Aspach. Oksana Lutsenko kommt aus Butscha. Zusammen mit ihrem neunjährigen Sohn hat sie die ukrainische Kleinstadt nahe Kiew, deren Namen seit wenigen Tagen die ganze Welt ob der dort verübten Gräueltaten kennt, verlassen. Seit Mitte März lebt sie bei einer Gastfamilie in Backnang und seit vergangener Woche arbeitet sie an der Gemeinschaftschule in der Taus als Deutschlehrerin. „Arbeiten ist besser, als immer nur Nachrichten zu sehen.“ Lutsenko hat an der Universität in Kiew und am Goetheinstitut Deutsch studiert, hat als Lehrerin in der Ukraine viele Jahre an Schulen unterrichtet und zuletzt eine private Deutschschule betrieben. Das wusste Jochen Nossek, Leiter der GMS in der Taus, zunächst nicht. „Über die Gastfamilie haben wir erfahren, dass die ukrainische Mutter eines bei uns zur Schule gehenden Kindes in der Ukraine als Deutschlehrerin tätig war. Also habe ich dann beim Regierungspräsidium in Stuttgart angefragt, was zu tun ist, um diese Frau an unserer Schule beschäftigen zu können.“ Der reguläre Arbeitsvertrag ist im Moment in Arbeit. Sobald er abgeschlossen ist, soll Lutsenko die ukrainischen Schüler fünf Stunden am Tag unterrichten, bis dahin sind es zwei.

An diesem Morgen sitzen vier von aktuell acht ukrainischen Schülern an der GMS in der Taus in Lutsenkos Klassenzimmer: eine Neuntklässlerin und ihr jüngerer Bruder aus Odessa, ein Mädchen aus Kiew und Lutsenkos Sohn. „Wir haben die ukrainischen Kinder zunächst in einer unserer Willkommensklassen, die Schulverwaltung nennt diese Klassen Vorbereitungsklassen, untergebracht. Aus mehreren Gründen erschien uns das nicht optimal. Erstens sind die Willkommensklassen in der Primar- und Sekundarstufe sehr voll und sehr heterogen. Es sind dort Schülerinnen und Schüler aus zahlreichen europäischen und nicht europäischen Staaten. Zweitens benötigen die ukrainischen Kinder aus unserer Sicht eine Bezugsperson, die ihre Situation kennt und vor allem ihre Sprache spricht“, so Nossek.

Vernetzung von ukrainischen Lehrkräften geplant

Oksana Lutsenko wurde für seine Schule dadurch zum Glücksfall. Sie ist viel mehr als nur die Lehrerin der deutschen Sprache. Sie übernimmt die Erstaufnahmegespräche, koordiniert die Integration der Kinder in die Regelklassen, ist sehr wichtig für die Kommunikation mit den Eltern – und trägt so dazu bei, dass die Schule zu einem Ort wird, an dem sich die geflüchteten Kinder willkommen fühlen. „Angedacht ist auch die Vernetzung aller ukrainischen Lehrkräfte in Backnang, um Synergien effektiv zu nutzen“, so Nossek. „Wir stehen ganz am Anfang. Wir sind die ersten mit einer ukrainischen Lehrkraft und können viel ausprobieren.“

Der weitaus größere Teil der Schulen muss allerdings ohne neu eingestelltes, muttersprachliches Lehrpersonal auskommen und auch ohne Willkommensklassen. An der kleinen Gemeinschaftsschule in Aspach zum Beispiel nehmen seit rund einer Woche zwei Kinder, zehn und elf Jahre alt, am Regelunterricht der 5. Klasse teil. „Die Fünfer haben sich richtig auf ihre neuen Mitschüler gefreut“, berichtet Schulleiterin Heidi Ahlers. „Sie haben das Klassenzimmer geschmückt, Willkommenspakete gepackt und bei einer Führung durch das Schulhaus und auf dem Schulgelände wichtige Orte ins Ukrainische übersetzt.“ Der Unterricht in der Regelklasse wird an der Aspacher Conrad-Weiser-Schule ergänzt durch das Großaspacher Modell, wonach auf dem Stundenplan der geflüchteten Kinder sprachintensive Fächer wie Geschichte oder Geografie ersetzt werden durch Sprachförderung und Patenzeit mit Ehrenamtlichen.

„Die beiden ukrainischen Schüler sprechen gut Englisch, das ist eine große Hilfe“, sagt Ahlers. Darüber hinaus diene eine Übersetzungs-App auf dem Tablet als Brücke zur Verständigung, eine Ehrenamtliche sei des Russischen mächtig und an der CWS gebe es auch Schüler, die Ukrainisch oder Russisch sprechen. Eine Herausforderung für die Schule sieht Ahlers in den Fragen: „Worauf bereiten wir die Kinder vor? Wie lange bleiben sie hier?“ Das sei schwer zu beantworten, schließlich würden viele der aus der Ukraine Geflüchteten wieder zurück in ihr Heimatland wollen. Ein Jugendlicher in Aspach beispielsweise nehme am Fernunterricht seiner ukrainischen Schule teil und nicht am Unterricht in der Aspacher Schule. So seien individuelle, dem Kind entsprechende Lösungen gefragt. Den Spracherwerb betrachtet Ahlers als die größte Herausforderung für die ukrainischen Kinder. „Dafür braucht es Zeit und dass man gemeinsame Dinge unternimmt. Die Kinder müssen in Kontakt sein mit den anderen Schülern.“ Darüber hinaus ist Schule „Ablenkung pur und das ist auch ganz gut so“. Alltag sei wichtig und könne von der Situation befreien.

Rund 200 ukrainische Kinder im Schulamtsbezirk Backnang

Seit etwa drei Wochen besuchen ukrainische Kinder Schulen im Schulamtsbezirk Backnang. Aktuell sind an die 200 ukrainische Schüler an 35 Schulen im Schulamtsbezirk aufgenommen. Wobei Schulamtsleiterin Sabine Hagenmüller-Gehring auf die Dynamik der Lage verweist, weshalb sich die Zahlen schnell überholen. „Sowohl die Schulen vor Ort als auch wir gehen so vor, dass immer der Einzelfall betrachtet wird und in jedem Einzelfall entschieden wird, an welcher Schule das Kind aufgenommen werden und ein passendes Bildungsangebot erhalten kann“, so Hagenmüller-Gehring. Ziel sei aber eine vorausschauende Planung, die allen mehr Sicherheit gebe, und auch, von der derzeitigen Praxis, im Einzelfall zu agieren, wegzukommen. In Abstimmungsgesprächen mit Schulträgern, geschäftsführenden Schulleitern und Schulleitern, an deren Schulen Vorbereitungsklassen existieren, soll über den Bedarf im laufenden und im kommenden Schuljahr beraten werden. Derzeit gibt es 33 Vorbereitungsklassen im Grundschulbereich und 16 für die Sekundarstufe I.

Große Herausforderung in Sachen Aufnahmekapazität ist es, trotz angespannter Unterrichtsversorgung Lehrerressourcen zu finden. Die Möglichkeit, auch ukrainische Lehrkräfte einzustellen, sei eine große Entlastung im Hinblick auf die Ressourcenlage. Auf seiner Homepage ruft das Schulamt dazu auf, dass sich infrage kommendes Personal für den Unterricht mit Schülern aus der Ukraine melden möge. Neben dem Appell auf seiner Homepage appelliert das Schulamt auch an alle Schulleitungen, dass sie bei der Gewinnung von weiteren Lehrkräften unterstützen. „Es melden sich immer wieder Personen auf unsere Appelle hin, die durchaus interessant für uns sind. Das sind keine Massen, aber letztlich hilft jeder einzelne Mensch, der für einen Einsatz in einer Vorbereitungsklasse infrage kommt.“

Viele Kinder aus dem Kriegsgebiet sind traumatisiert

Insgesamt würden die ukrainischen Schülerinnen und Schüler eine sehr gute Bildung mitbringen, so Hagenmüller-Gehring, weil sie eben alle zuvor bereits eine Schule besucht hätten. „Unsere Schulen berichten, dass die ukrainischen Kinder auf sehr gute Grundlagen zurückgreifen können, motiviert lernen und auch sprachlich rasch Fortschritte zu sehen sind.“ Bei der Flüchtlingswelle 2015/2016 sei das ganz anders gewesen. Es seien damals etliche Kinder dabei gewesen, die noch nie eine Schule besucht hatten und deshalb auch nicht alphabetisiert waren. Allerdings dürfe man nicht verkennen, dass viele Kinder, die aus dem Kriegsgebiet in der Ukraine hier ankommen, traumatisiert seien und diese Traumata immer wieder sichtbar würden. „Der Umgang mit traumatisierten Kindern ist deshalb eine große Herausforderung für unsere Schulen. Sie vor dem Hintergrund ihrer Schicksale in der Schule zu integrieren und ihnen Lernen auch dann zu ermöglichen, wenn es ihnen nicht gut geht, ist pädagogisch vermutlich die größte Aufgabe.“

Nach der Flucht kommt der Schulalltag

© Pressefotografie Alexander Beche

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Erstellt:
8. April 2022, 06:00 Uhr

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