„Nadia“ bietet jungen Frauen Schutz vor Zwangsheirat

dpa/lsw Stuttgart. Die Zwangsehe vererbt sich zum Teil über mehrere Generationen. Mädchen und junge Frauen müssen viel Mut aufbringen, wenn sie diesem Schicksal entrinnen wollen. Beim Schritt in ein selbstbestimmtes Leben bietet ihnen eine neue Zufluchtsstätte Hilfe an.

Sie erleben in ihren Familien absolute Kontrolle und Gewalt und sollen einen Fremden heiraten - von Zwangsverheiratung bedrohte oder betroffene Frauen finden jetzt kurzfristig Schutz beim Projekt „Nadia“. Die anonyme Einrichtung startet am kommenden Mittwoch. Dort können die Mädchen und jungen Frauen bis zu zwölf Wochen lang mit Hilfe von Sozialarbeiterinnen eigene Perspektiven entwickeln. „Damit wird eine Bedarfslücke im Südwesten geschlossen“, erläutert Aysha Kartal von der Evangelischen Gesellschaft (eva), die aus Sicherheitsgründen ihren wahren Namen nicht nennt. „Nadia“ mit sechs Plätzen ergänzt weitere eva-Angebote: die Beratungsstelle „Yasemin“ für junge Migrantinnen und das langfristige Wohnprojekt „Rosa“.

Bundesweit einzigartig werden bei „Nadia“ 14- bis 27-Jährige betreut - sonst liegt die Altersgrenze bei 21 Jahren. Bislang seien im Südwesten von Zwangsheirat bedrohte Frauen häufig in Frauenhäusern untergekommen, wo sie alle Regeln missachteten, sagt Kartal, Leiterin des Fachbereichs Hilfen für junge Migrantinnen bei der eva. „Die Mädchen sind in der Pubertät und wollen ihre Freiheiten auskosten.“ Die Mehrzahl der Betroffenen habe Wurzeln in islamischen Ländern, es seien aber auch Jesidinnen und Jüdinnen darunter. Sie befürchten nach Erfahrung Kartals Zwangsheirat, wenn die Eltern eine Reise zur plötzlich schwer erkrankten Oma in der Heimat planen oder über entsprechende Absichten hinter vorgehaltener Hand gesprochen wird.

Der Schritt aus der Familie in ein selbstbestimmtes Leben kostet die Frauen nach Ansicht Kartals großen Mut. Oft seien deren Eltern selbst zwangsverheiratet worden. Sie seien die ersten, die sich seit Generationen gegen diese Tradition auflehnten und damit aus Sicht ihrer Eltern die Ehre der Familie verletzten. „Im Einzelfall rechnen sie mit Verschleppung, Einsperren oder sogar mit dem Tod, wenn die Familie ihren Aufenthaltsort erfährt.“ Manche Frauen litten darunter, jüngere Schwestern zurückzulassen, denen ein ähnliches Schicksal wie das ihnen zugedachte bevorstehe. Kartal erwartet auf Basis der Erfahrungen ähnlicher Einrichtungen in anderen Bundesländern, dass etwa die Hälfte der Frauen in die Familie zurückkehrt.

Zwangsverheiratung ist eine Straftat. Laut polizeilicher Kriminalstatistik ist die Zahl der Opfer im Südwesten in den vergangenen Jahren von drei im Jahr 2014 auf zehn im Jahr 2018 gestiegen. Im vorvergangenen Jahr waren ein Kind, zwei Jugendliche, fünf Heranwachsende und zwei Erwachsene betroffen. In den ersten zehn Monaten des Jahres 2019 lagen demnach die Fallzahlen niedriger als im Vorjahreszeitraum. Die Dunkelziffer ist bei dem Phänomen sehr hoch. Anhaltspunkte geben die Zahlen von „Yasemin“: 75 Menschen unmittelbar von einer Zwangsverheiratung bedrohte Menschen ließen sich dort im Jahr 2018 helfen.

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Erstellt:
27. Juni 2020, 09:14 Uhr

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