Nadia Murad erinnert: Noch 2800 Jesidinnen vermisst

dpa/lsw Mannheim. Sie hat die Hölle durchlebt und kämpft nun unermüdlich gegen sexuelle Gewalt und Sklaverei: Nadia Murad. Seit einigen Jahren engagiert sie sich im Dienst der Vereinten Nationen. Ihre Bilanz ist düster.

Nadia Murad, Friedensnobelpreisträgerin 2018, bei einer Diskussion im europäischen Hauptquartier der Vereinten Nationen. Foto: Salvatore Di Nolfi/KEYSTONE/dpa/Archivbild

Nadia Murad, Friedensnobelpreisträgerin 2018, bei einer Diskussion im europäischen Hauptquartier der Vereinten Nationen. Foto: Salvatore Di Nolfi/KEYSTONE/dpa/Archivbild

Die Lage der Jesidinnen ist nach Ansicht der Menschenrechtsaktivistin Nadia Murad noch immer katastrophal. Von den über 6000 entführten und versklavten jesidischen Frauen und Kindern würden nach sechs Jahren immer noch 2800 vermisst, sagte die einst selbst im Nordirak verschleppte 27-Jährige der Deutschen Presse-Agentur anlässlich des Welttages gegen Menschenhandel und Sklaverei (30. Juli). Sie seien in Gefangenschaft ständiger sexueller Gewalt ausgesetzt - ohne Hoffnung auf Rettung. „Die Welt hat diese Menschen aus dem Blick verloren.“

Murad ist UN-Sonderbotschafterin für die Würde der Überlebenden von Menschenhandel. Sie sagte, sie sehe ihre Aufgabe darin, die internationale Gemeinschaft weiter an die Verbrechen zu erinnern und Gesetze zur Bestrafung der Täter und zum Schutz der Überlebenden einzufordern. Denn Menschenhandel und Sklaverei seien nicht gebannt. „Diese Verbrechen sind noch überall auf der Welt verbreitet.“ In rund 70 Prozent der Fälle seien Frauen und Mädchen die Opfer. Diese Gewalt komme nicht nur in Krisenherden vor. Ob Täter des sogenannten Islamischen Staates Gewalt gegen Frauen als Kriegswaffe einsetzten oder Männer in Europa sich an ihnen vergingen - Frauen würden noch immer als Objekte betrachtet.

Die junge Irakerin Murad war eine von mehr als 1000 Frauen vornehmlich jesidischen Glaubens, die Baden-Württemberg 2015/16 aufgenommen hatte. Sie ist durch ihren offenen Umgang mit ihrer Leidensgeschichte als Sklavin des sogenannten Islamischen Staates zur Stimme dieser Frauen geworden. Bei einem Überfall 2014 auf ihr Heimatdorf im nordirakischen Sindschar-Gebiet wurden ihre Mutter und sechs Brüder von IS-Schergen getötet und sie verschleppt. Ihrem zweiten „Besitzer“ konnte sie entfliehen und sich in ein Camp retten. Sie wurde 2016 zur ersten „Sonderbotschafterin für die Würde der Überlebenden von Menschenhandel“ der Vereinten Nationen ernannt. Für ihr mutiges Engagement gegen sexuelle Gewalt als Kriegswaffe erhielt sie 2018 den Friedensnobelpreis zusammen mit dem kongolesischen Arzt Denis Mukwege.

In Deutschland fühle sie sich zu Hause, betonte sie. „Und Baden-Württemberg wird immer meine Heimat sein.“ Sie fügte hinzu: „Ich werde Baden-Württembergs Regierung für Aufnahme, Schutz und Unterstützung dieser Frauen und Kinder für immer dankbar sein.“ Sie sei aber als Anwältin der Jesiden, einer religiösen Minderheit im Irak, sowie aller Überlebender von Menschenhandel viel in der Welt unterwegs - insbesondere zwischen den USA und Europa. Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) hatte sich besonders für die Aufnahme der Verfolgten eingesetzt.

Mit dem Sieg gegen den IS-Terror sei der Völkermord an den Jesiden nicht beendet worden, sagte Murad. Noch immer lebten Hunderttausende Menschen in Camps ohne Zugang zu ausreichender Gesundheitsversorgung, Bildung oder Arbeit. Die 150 000 Rückkehrer in ihr nordirakisches Herkunftsgebiet hätten ähnliche Probleme. Sie seien mit einer zerstörten Infrastruktur konfrontiert. Gefragt sei Unterstützung von der irakischen Regierung und der Weltgemeinschaft, um den Genozid zu stoppen.

Die Situation der in den Südwesten geflohenen Jesidinnen sei unterschiedlich: Einige seien gut integriert, andere auf dem Weg dahin. In den Irak zurückgekehrt sei ihres Wissens keine. „Die Überlebenden von Völkermord und sexueller Gewalt brauchen Zeit, ihre Traumata zu verarbeiten, zu heilen und sich zu integrieren.“

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Erstellt:
29. Juli 2020, 05:53 Uhr

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