Steinzeit-Kannibalismus

Neandertaler schlachteten und fraßen fremde Frauen und Kinder

Die Neandertaler könnten gezielt Frauen und Kinder fremder Gruppen getötet und verzehrt haben. Belege für diesen ausgewählten Kannibalismus liefern fossile Knochen aus der belgischen Goyet-Höhle.

Neandertaler kümmerten sich um Kranke und Alte aus ihrer Gruppe. Doch sie hatten auch eine andere, kannibalistische Seite: Sie aßen teilweise ihre Artgenossen.

© Imago/Dreamstime

Neandertaler kümmerten sich um Kranke und Alte aus ihrer Gruppe. Doch sie hatten auch eine andere, kannibalistische Seite: Sie aßen teilweise ihre Artgenossen.

Von Markus Brauer

Wie schmeckt Menschenfleisch? Das wissen (zum Glück) nur wenige Menschen. Und das aus gutem Grund: Wer Menschenfleisch vertilgt, der gilt als Kannibale und Kannibalismus ist strafbar.

Wie schmeckt Menschenfleisch?

Gerüchteweise soll der Homo sapiens dem Geschmack von Hühnerfleisch nicht unähnlich sein. Doch echte Kannibalen sollen zu Protokoll gegeben haben, dass der Geschmack dem von Lamm und Schwein, nicht aber Hühnchen ähnelt.

Wie dem auch immer sei. In den meisten menschlichen Kulturen ist das Verspeisen von Artgenossen ein Tabu. Paläontologische Knochenfunde belegen hingegen, dass unsere frühe Vorfahren da weit weniger zimperlich waren, wenn es darum ging, den Bauch zu füllen.

Artgenossen als Nahrungsquelle

Menschliche Knochen mit Schnittmarken verraten, dass Neandertaler sowie ältere Frühmenschenarten Menschenfleisch verzehrten. Besonders häufig könnte dies beim Homo antecessor der Fall gewesen sein. Dieser vor rund 850.000 Jahren lebende Frühmensch hat in der berühmten spanischen Fundstätte Atapuerca besonders viele Belege kannibalistischer Speisepläne hinterlassen.

Die Neandertaler waren eine faszinierende Spezies. Einerseits umhegten sie kranke und behinderte Gruppenmitglieder und bestatteten ihre Toten. Andererseits mordtene, verstümmelten und aßen sie ihresgleichen.

In der troisième caverne (der dritten Höhle) von Goyet im Weiler Goyet in der belgischen Gemeinde Gesves wurden insgesamt 101 Knochen von Neandertalern geborgen, für die ein Alter zwischen 45.000 und 41.000 Jahren ermittelt wurde.

Auf den Knochen entdeckte man Schnittspuren, die als Hinweis auf eine Dekarnation – also Entfleischung – und auf Kannibalismus interpretiert werden. Es ist der größte Fund mit Schnitt- und Schlagspuren in Nordeuropa.

Frauen und Kinder wurden Opfer früher Kannibalen

„Der Kannibalismus der Neandertaler könnte eine breite Palette von Motiven umfassen, von Überlebensstrategien über zwischenartliche Konkurrenz bis zu einem rituellen Kontext“, schreiben Quentin Cosnefroy von der Universität Bordeaux und seine Kollegen im Fachjournal „Scientific Reports“.

Highly selective cannibalism in the Late Pleistocene of Northern Europe reveals Neandertals were targeted prey https://t.co/8dDuXya6p1pic.twitter.com/WbaEJnFRQ4 — Scientific Reports (@SciReports) December 2, 2025

Sie haben die Relikte der in Goyet kannibalisierten Neandertaler nun noch einmal genauer untersucht, um mehr über sie und die möglichen Beweggründe ihrer Schlachtung zu erfahren. Die Knochenstücke mit den Kannibalismus-Spuren stammen demnach von mindestens vier jüngeren Frauen und zwei Kindern – einem halbwüchsigen Jungen und einem Kleinkind, wie anatomische und genetische Analysen ergeben haben.

Von fremder Herkunft und zierlicher Statur

„Diese Resultate sprechen dafür, dass die Toten von Goyet eine absichtliche Auswahl von Individuen darstellen und dies nicht bloß zufällig Gestorbene aus dieser Neandertaler-Population waren“, schreiben die Paläoanthropologen.

Zudem stammten die Opfer nicht aus der Umgebung, sondern waren fremder Herkunft. „Die Neandertaler aus Goyet sprechen demnach für exo-kannibalistische Praktiken“, berichten die Forscher. Dies meint eine Art von Kannibalismus, bei dem Angehörige fremder Gruppen getötet und verzehrt werden. Die getöteten Frauen stammten aus derselben Gegend, waren aber nicht miteinander verwandt.

Zudem zeigen die Analysen der Knochen, dass sämtliche aufgefressen Frauen klein gewachsen und zierlich gebaut waren. So waren die Beinknochen deutlich dünner und fragiler als für Neandertaler dieser Zeit üblich.

„Wir können daher spekulieren, dass die Neandertaler von Goyet nicht nur wegen ihrer Herkunft zu Kannibalismus-Opfern wurden, sondern dass sie im Rahmen einer gezielten Jagd auf grazile, kleingewachsene Frauen und Heranwachsende getötet wurden“, erläutern die Wissenschaftler.

Wurden die Opfer gezielt aus rivalisierenden Gruppen ausgesucht?

Den Paläoanthropologen zufolge könnte hinter dieser Selektion nicht nur Hunger gestanden haben. Denn in derselben Fundschicht der Goyet-Höhle gab es auch zahlreiche Tierknochen. Sie vermuten deshalb, dass eine Konkurrenz und Konflikte zwischen Neandertaler-Gruppen der Grund für den Exo-Kannibalismus gewesen sein könnte.

Demnach wurden die Frauen und Kinder gekidnapped und getötet, um die rivalisierende Gruppe zu schwächen. „Man könnte zudem vermuten, dass diese Auswahlstrategie darauf abzielte, auch das Fortpflanzungspotenzial einer konkurrierenden Gruppe zu schwächen.“

Konkurrenz durch Homo sapiens

Dafür könnte auch der Zeitpunkt dieses Kannibalismus-Falls sprechen: Er ereignete sich vor 41.000 bis 45.000 Jahren und damit zu einer Zeit, als sich erste Gruppen des Homos sapiens in Europa ausbreiteten. Dies könnte die Neandertaler-Gruppen zusätzlich unter Druck gesetzt haben.

„Der Kannibalismus-Fall von Goyet repräsentiert den bisher überzeugendsten Beleg für die Konkurrenz zwischen Gruppen unter den Populationen der spätpleistozänen Neandertaler-Populationen“, schreiben die Forscher. In seiner gezielten, einseitigen Auswahl der Opfer unterscheide sich dieser Fall des Exo-Kannibalismus von allen bisher bekannten.

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Erstellt:
2. Dezember 2025, 12:50 Uhr

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