Terrorangriff der Hamas
Netanjahu drückt sich vor seiner Verantwortung
In Israel werden die Stimmen wieder lauter, das Massaker vom 7. Oktober 2023 politisch wie gesellschaftlich aufzuarbeiten.

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Terrorist der Hamas: Terrorangriff vom 7. Oktober 2023 auf Israel nicht aufgearbeitet.
Von Franz Feyder
Einen Moment lang hielten vergangene Woche viele inne: als im ägyptischen Scharm el-Scheich mit Sekt und Hofzeremoniell bejubelt wurde, was Israelis und Palästinensern Frieden bringen sollte – und dann nicht einmal ein Woche Bestand hatte. Die Menschen in Israel hatten gehofft, dass der sie seit zwei Jahren erdrückende Schmerz so etwas wie eine Beruhigung erführe. Vom Verkäufer bis zur Ärztin, von der Polizistin bis zum Soldaten – in allen hatte die Frage genagt, wer oder was hat den blutigen Überfall der Hamas-Terroristen auf das Land am 7. Oktober 2023 ermöglicht?
Jenem Überfall, bei dem an einem einzigen Tag nach Daten der Sozialversicherungen 1175 Menschen starben und mehr als 3400 verletzt wurden. Ungezählt sind jene, die bis heute an den Folgen leiden, die sich Nacht für Nacht mit rasenden Herzen in ihren Betten wälzen. Auch das gehört zu den bitteren Wahrheiten des Überfalls, dessen Grauen den Nahen Osten bis heute eisern umklammert: Wie viele Menschen seither starben, verletzt und verwundet wurden, darüber schweigen israelische Regierungsstellen ebenso wie die Vereinten Nationen: Jene führen allerdings, den Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundbehörde im Gazastreifen folgend, Buch über palästinensische Opfer.
Anschlag und seine Vorgeschichte analysieren
„Eine Staatskommission [...] kann die Fakten des 7. Oktobers vollständig aufdecken [...] und das Vertrauen der Menschen in die Politik wiederherstellen“, heißt es beim Institut für Demokratie in Israel. Der frühere Verteidigungsminister Yoav Gallant, in dessen Verantwortung die Schutzlosigkeit gegen den Terrorangriff fiel, fordert eine solche Staatskommission einzusetzen, einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss, um den Anschlag und seine Vorgeschichte genau zu analysieren. „Eine objektive Aufarbeitung, die uns alle umfasst, die Entscheidungen getroffen haben, und die, die sie ausgeführt haben. Die Regierung, das Militär, die Nachrichtendienste. Den Verteidigungsminister ebenso wie den Premierminister.“ Regierungschef Benjamin Netanjahu allerdings hat mit Verweis auf den andauernden Krieg in Gaza bislang blockiert, dass eine solche Staatskommission eingesetzt wird.
Den Ministerpräsidenten sieht auch der frühere Chef des israelischen Militärgeheimdienstes Aman, Amos Jadlin, in der Verantwortung: „Es war ein dreifaches Versagen: geheimdienstlich, operativ, politisch. Und Netanjahu ist in zwei Punkten schuld.“ Ronen Bar, Ex-Chef des Inlandsgeheimdienstes Shin-Bet, sekundiert: „Der Premier übernahm nie Verantwortung für die Politik der stillen Finanzierung der Hamas. Dieses historisch politische Versagen hat die Terroristen gestärkt“, ist der 60-Jährige überzeugt, dessen Entlassung Netanjahu im März betrieb – und die der Oberste Gerichtshof stoppte. Bar trat im Juni zurück; die Regierung nahm ihre Entlassungspläne zurück.
Technologische Monokultur aufgebaut
Israelische Medien munkelten, Netanjahu habe so verhindern wollen, dass die Richter ihn genauer unter die Lupe genommen hätten. Denn Ronen Bar hatte den Premier und dessen enge Vertraute nicht nur wiederholt wegen des 7. Oktobers kritisiert. Darüber hinaus ging es auch um den Verdacht fragwürdiger Geldzahlungen Katars an die israelische Regierung. Diese ließ zudem seit 2018 monatlich Geldtransfers von 30 bis 40 Millionen Euro Katars nach Gaza zu. Geld, mit dem dort „humanitäre Hilfe“ oder Gehälter unter Aufsicht der Hamas finanziert wurden.
Unabhängig davon zählen israelische Sicherheitsexperten und Militärs bereits jetzt eine Vielzahl von Versäumnissen auf, die zum 7. Oktober führten. Man habe die Absichten und Fähigkeiten der Hamas in weiten und entscheidenden Teilen falsch eingeschätzt. Regierung und Dienste „haben der Technik übervertraut, eine technologische Monokultur aufgebaut. Sie glaubten, sie könnten in der Geheimdienstarbeit den Menschen ersetzen“, sagt Naftali Granot, einst Vize-Präsident des Mossad. „Dabei ist seit der Flucht Osama bin-Ladens 2001 aus Afghanistan nach Pakistan klar: Terroristen kommunizieren alles, was wichtig ist, nur noch direkt von Mund zu Ohr. Da komme ich nicht mit noch so guter Technik zwischen, sondern nur mit Menschen.“
Kein Geld mehr für den Anwalt des Teufels
Sparen soll auch ein zweiter wesentlicher Grund für das Desaster gewesen sein: Israel unterhielt eine starke Einheit mit Frauen und Männern, die sich in das Denken und Handeln von Terroristen hineinversetzten, um damit bessere Grundlagen für Entscheidungen israelischer Politiker und Entscheidungsträger zu schaffen. Diesem „Red-Ream“ hatte die Regierung Netanjahu zuletzt 2022 und 2023 massiv die Mittel gestrichen. „Das Team schrumpfte auf eine Handvoll Mitarbeiter zusammen“, klagt Granot.
Kritiker werfen dem damaligen Verteidigungsminister Gallant wie dem gesamten Kabinett vor, nicht genügend Truppen am Grenzzaun zum Gazastreifen bereitgehalten und stattdessen im Norden an der Grenze zum Libanon und Syrien eine Ballung von Verbänden geschaffen zu haben. „Dadurch war das Südkommando der Armee überlastet. Es fehlte an abschreckender Präsenz am Zaun zum Gazastreifen und an Reserven, mit denen die Terroristen hätten zurückgeschlagen werden können“, so die Bewertung von Amos Jadlin.
Netanjahu wird in der wieder lauter werdenden Debatte in Israel die Hauptverantwortung dafür zugeschrieben, dass das Hamas-Massaker geschehen konnte. Während frühere und noch handelnde Geheimdienstchefs und hohe Militärs sich bereits früh für ihr Versagen verantworteten, teilweise von ihren Ämtern zurücktraten, wälzt der Politiker seine Verantwortung bisher auf sie ab.