Nichts gelernt
Die 8372 Toten von Srebrenica werden noch im Grab verhöhnt. Das mahnt an eine Reform des Völkerrechts.
Von Eidos Import
Wir haben nichts gelernt! Gar nichts. Als vor 30 Jahren eine enthemmte serbische Soldateska im Herzen Europas 8372 bosnisch-muslimische Männer und Jugendliche abschlachtete, waren die Deutschen entsetzt. Denn man lag sich in den Armen: Deutschland war wiedervereinigt, der kalte Krieg beendet, der Traum vom ewigen Frieden schien greifbar – und niemand wollte die blutige Schrift an der Wand sehen, die schon damals ankündigte, was in diesen Tagen passiert. Wer hatte 1995 schon Augen dafür, wie es im westeuropäischen Vorgarten zuging: ein Genozid vor der Haustür. Unappetitlich, weil doch alle auf der Wolke der Glückseligkeit schwebten: Das Militär sollte am besten abgeschafft werden. Auf dicke Gewinne durch Geschäfte in den Staaten des gerade zerbrochenen Warschauer Paktes wurde spekuliert. Und dann so was, da in Srebrenica.
Dabei war die Völkergemeinschaft schon drauf und dran, das Morden auf dem Balkan zu stoppen: Sie schrieb der entsandten Friedenstruppe in den Einsatzbefehl, sie solle mit ihrer Mission nach Kapitel 7 der Charta der Vereinten Nationen den Frieden gewaltsam erzwingen. Erstmals nach dem Korea-Krieg 1950 bis 1953 sollten Blauhelme militärische Gewalt anwenden, um Blutvergießen zu beenden. Zumindest auf dem Papier stand das so – und das war die Tinte nicht wert, mit der es bedruckt war. „Politische Entscheidungen auf UN- und Nato-Ebene – geprägt von Zögern, nationalen Egoismen und Angst vor Risiken – ließen eine als Schutzzone deklarierte Stadt schutzlos zurück“, schrieben die Richter des Kriegsverbrechertribunals in Den Haag in die Urteile gegen die Schlächter von Srebrenica, den bosnisch-serbischen Anführern Radovan Karadzic und Ratko Mladic.
Hat sich seitdem etwas geändert? Nichts hat sich geändert. Ukraine, Gaza, der Iran – die Völkergemeinschaft dümpelt heute kraftlos in Zeiten, in der Krieg wieder als Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln gilt. Natürlich könnte die Völkergemeinschaft, der UN-Sicherheitsrat, Truppen in die Ukraine und in den Gazastreifen schicken, die die Macht hätten, den Frieden nach Artikel 7 der Charta zu erzwingen. Doch die fünf Veto-Mächte China, Frankreich, Großbritannien, Russland und die USA blockieren sich gegenseitig, wenn sie mit vielen Worten Gewalt und Krieg verurteilen.
Seit den 1960er Jahren fordern vor allem Wissenschaftler und einzelne Politiker eine Reform der Vereinten Nationen – ebenso lange und ebenso vergeblich wie die der Europäischen Union, in der Politiker von Reformen schwadronieren, ohne zu handeln. „Grelle Fehlschläge überlagern die Errungenschaften der Völkergemeinschaft. Frieden wird angekündigt, ja gefordert – ohne die Mittel und Streitkräfte dafür zur Verfügung zu stellen, ihn auch zu erzwingen. Die UN haben nur noch Rezepte für Demütigungen und Katastrophen“, schrieb der britische Historiker Paul Kennedy 2001 den UN ins Stammbuch. Ohne Erfolg.
Vor 30 Jahren wurden mitten in Europa 8372 Männer und Jugendliche zwischen 16 und 65 geplant und systematisch ermordet. 2025 terrorisiert der russische Diktator Wladimir Putin die Ukraine, sterben täglich Frauen, Männer und Kinder bei Drohnenangriffen. Im Gazastreifen eskaliert der israelische Premier Benjamin Netanjahu eine berechtigte Anti-Terroroperation zur Perversion eines Rachefeldzuges.
Wer Frieden will, der reformiert jetzt das Völkerrecht, die Vereinten Nationen, die Europäische Union. Statt sich nach Belieben auf etwas zu berufen, was faktisch nicht funktioniert, sinnlos Menschenleben kostet und die Begeisterung für Demokratie tötet. Das sind wir den Toten von Srebrenica schuldig. Aber: Wir haben nichts gelernt!