Grundschule ohne Noten bald auch in Backnang und Murrhardt

Zum kommenden Schuljahr startet ein landesweiter Schulversuch, in dem Grundschüler nicht durch Zensuren Rückmeldung zu ihren Leistungen bekommen, sondern durch Gespräche und grafische Darstellungen. Drei Schulen aus Backnang und Murrhardt sind beteiligt.

Die Noten sind gemacht und die Schulleiterin unterschreibt die Zeugnisse: So geht für Martina Mayer das Schuljahr an der Walterichschule zu Ende. In Zukunft sollen Gespräche und Kompetenzraster diese herkömmliche Form der Leistungsrückmeldung ersetzen. Foto: J. Fiedler

© Jörg Fiedler

Die Noten sind gemacht und die Schulleiterin unterschreibt die Zeugnisse: So geht für Martina Mayer das Schuljahr an der Walterichschule zu Ende. In Zukunft sollen Gespräche und Kompetenzraster diese herkömmliche Form der Leistungsrückmeldung ersetzen. Foto: J. Fiedler

Von Nicola Scharpf

Backnang/Murrhardt. Letzter Schultag, Zeugnistag. Tausende Schüler bekommen heute in Form von Noten Rückmeldung, mit welchen Leistungen sie das zurückliegende Schuljahr beenden. Manch einer bezeichnet das Schulzeugnis vielleicht als Giftzettel, was signalisiert, dass dieses Dokument für ihn nicht unbedingt Gutes verspricht, und träumt von einer Schule ohne Noten. Diese Vorstellung wird ab dem kommenden Schuljahr Realität – zumindest versuchsweise und zumindest für Grundschüler an 37 baden-württembergischen Versuchsschulen, zu denen die Murrhardter Walterichschule sowie die Backnanger Plaisirschule und die Gemeinschaftsschule in der Taus gehören. Sie beteiligen sich an einem landesweiten Versuch, bei dem die Kinder nicht in Form von Noten bewertet werden, sondern eine lernförderliche Rückmeldung erhalten.

Einen Versuch der Schule ohne Noten hat es in den Jahren 2013 bis 2017 bereits gegeben. Allerdings ließ ihn die damalige Kultusministerin ohne Auswertung auslaufen, was zu keiner zufriedenstellenden Situation für die hiesigen Beteiligten führte. So nennt Schulleiter Jochen Nossek als einen Grund, weshalb die Gemeinschaftsschule in der Taus beim zweiten Schulversuch mitmacht, dass man sich bereits beim ersten Versuch beteiligt habe. Die oberste Motivation für ihn ist aber, dass der Schulversuch „pädagogisch dringend notwendig“ sei. Die aktuelle Schulkultur sei geprägt von einem enormen Druck sowohl für Schüler als auch für Lehrer, die sich verpflichtet fühlten, eine Vielzahl an Klassenarbeiten zu schreiben. Viel schlimmer als die Noten an sich sei aber die Haltung, die dahinterstecke. „Das ist unverantwortlich und überhaupt nicht sinnvoll. Ein Kind kann ich nicht reduzieren auf Flächenberechnung und Diktate. Die Kinder werden immer an ihren Schwächen gemessen. So schaffen wir es, dass sie in Klasse 4 frustriert sind.“

Über- und Unterforderung sollen vermieden werden

Der Schulversuch will untersuchen, wie Lernen ohne die Vergabe von Zensuren gelingt. „Ein Kind lernt das Fahrrad fahren ganz ohne Noten“, sagt Martina Mayer, die die Walterichschule in Murrhardt leitet, und kritisiert das Bulimielernen: Schüler stopfen Wissen in sich hinein, um es in der nächsten Klassenarbeit wieder auszuspucken: „Das ist nicht Lernen.“ Durch den Verzicht auf Ziffernnoten soll die Lernmotivation der Kinder besser erhalten bleiben, sollen Über- und Unterforderung vermieden werden. „Es geht um Kompetenzerwerb. Das ist etwas Größeres. Eine Note sagt nichts über die Kompetenz aus und ist nicht differenziert genug.“ Hinzu komme, dass die Schüler einer Klasse heute von ihrem Stand her die gesamte Bandbreite von vier Schuljahren mitbrächten. „Noten passen nicht mehr in unsere Zeit.“

Die Note ist eine viel zu kurze Information für die Kinder

Das heißt aber nicht, dass die Kinder beim Schulversuch nicht bewertet werden. „Ich will schon Leistung fordern. Und ein Lernprozess kann schmerzlich sein“, sagt die scheidende Rektorin der Plaisirschule, Annedore Bauer-Lachenmaier. Für sie ist wichtig, dass die Kinder dabei Selbstwirksamkeit erfahren, dass sie spüren können: Ich kann lernen, ich kann etwas verbessern. „Dafür ist die Note eine viel zu kurze Information.“ Es sei wissenschaftlich erwiesen, dass die Art der Rückmeldung den größten Einfluss auf das Lernen hat.

In der 1. Klasse erfolgt die Rückmeldung ohnehin unabhängig vom Schulversuch nicht in Form von Noten, sondern durch drei verbindliche Gespräche zwischen Lehrer und Eltern beziehungsweise auch unter Beteiligung des Kindes. Zusätzlich gibt es eine textbasierte Bewertung in der Halbjahresinformation und im Jahreszeugnis. Im Unterricht arbeiten die Kinder nach individuellen Lernplänen für den Tag oder die Woche, schildert Mayer, sodass das Erarbeiten von Wissen ohnehin schon differenziert und schülerorientiert erfolge.

Sprachsensible Rückmeldungen sollen Fortschritte sichtbar machen

Im Rahmen des Schulversuchs treten an die Stelle des Schulberichts ein Gespräch und ein Kompetenzraster. „Es gibt eine sprachsensible Rückmeldung, in der sichtbar wird, ob das Kind beispielsweise in den zurückliegenden zwei Monaten Fortschritte im Lesen gemacht hat“, so Nossek. „Ich will ein Spinnendiagramm sehen und ich will Balkendiagramme sehen, die man übereinanderlegen kann.“ Ihm schwebt ein Logbuch für den Unterricht vor, das alle Kompetenzbereiche darstellt und aus dem die Kinder nachvollziehen können, wohin die Reise geht. „Diese Form bringt Kinder weiter, sie bringt alle weiter“, sagt Bauer-Lachenmaier. „Ich bin überzeugt, dass es nach dem Schulversuch in die Fläche geht.“

Wobei diese Form der Leistungsrückmeldung für die Lehrer einen Mehraufwand mit sich bringt und das in Zeiten einer schlechten Unterrichtsversorgung. Die am Versuch beteiligten Schulen erhalten keine zusätzliche Entlastung und nehmen trotzdem teil. „Ich sehe für uns keinen Nachteil“, sagt Mayer. „Der Vorteil als Versuchsschule ist die wissenschaftliche Begleitung und Evaluation, was ein Nachsteuern ermöglicht.“

Manche Eltern tun sich schwer

Alle drei Schulleiter und Schulleiterinnen haben die Hoffnung, „dass die Eltern merken, dass es eine gute Form der Rückmeldung ist“, so Mayer. Von den Eltern sei großes Umdenken gefordert, weil sie Noten gewohnt seien. „Manche Eltern tun sich schwer“, hat Mayer festgestellt und Bauer-Lachenmaier bestätigt, dass es vereinzelte Stimmen gebe, die Kinder seien Versuchskaninchen und wenn sie nichts mehr leisten müssten, könnte man sie auch in die Waldorfschule schicken. Auf der anderen Seite gebe es Eltern, die ihr Kind gerade aufgrund der Beteiligung am Schulversuch an den Versuchsschulen anmelden wollen.

Und die Kinder? Sie wissen noch nicht, was Schule bedeutet. Für sie wird es jedenfalls zunächst mal ein System ohne Noten.

Landesweiter Schulversuch

Der Schulversuch Ab dem kommenden Schuljahr beginnt der Versuch „Lernförderliche Leistungsrückmeldung in der Grundschule“, bei dem die Kinder bis inklusive Klasse 4 keine Noten bekommen. Der Schulversuch beginnt in den Klassen 1 und 2 der teilnehmenden Grundschulen. Er ist auf vier Jahre ausgelegt. In den folgenden Schuljahren bis 2025/2026 wird der Versuch in den bereits teilnehmenden Klassen fortgeführt und jeweils um die neuen 1. Klassen erweitert. Über drei Jahre wird der Versuch evaluiert, im vierten Jahr wird dann der Evaluationsbericht erstellt.

Die Beteiligten 37 Grundschulen haben einen Antrag auf Teilnahme im kommenden Schuljahr gestellt, weitere Schulen interessieren sich. Auch eine Teilnahme ab dem Schuljahr 2023/2024 ist möglich. Voraussetzung für die Teilnahme einer Grundschule ist ein Antrag der Schule, die Zustimmung der Gesamtlehrerkonferenz und der Schulkonferenz so-wie die Beratung des Schulversuchs im Elternbeirat. Ferner muss sichergestellt werden, dass der Schulversuch nicht gegen den Willen der Eltern stattfindet.

Das Ziel Laut Kultusministerin Theresa Schopper will der Schulversuch untersuchen, wie es sich auf die Unterrichtsqualität, die Lernmotivation und die Leistungen auswirkt, wenn Schülerinnen und Schüler differenzierte Rückmeldungen zu ihren Leistungen bekommen.

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Erstellt:
27. Juli 2022, 06:00 Uhr

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