Notfallpraxis in Backnang verkürzt ihre Öffnungszeiten

Im Bereitschaftsdienst der Notfallpraxen Rems-Murr kommt es wegen eines Urteils des Bundessozialgerichts zu erheblichen Einschränkungen. Die Notfallpraxis in Schorndorf wird geschlossen, in Backnang und Winnenden werden die Dienste reduziert. Die Ärzteschaft ist extrem verärgert.

Patienten, die abends und an Wochenenden Hilfe brauchen, müssen sich auf längere Wartezeiten einstellen. Foto: Tobias Sellmaier

© Tobias Sellmaier

Patienten, die abends und an Wochenenden Hilfe brauchen, müssen sich auf längere Wartezeiten einstellen. Foto: Tobias Sellmaier

Von Matthias Nothstein

Backnang/Winnenden/Schorndorf. Das jüngste Urteil des Bundessozialgerichts, wonach auch sogenannte Poolärzte, die Dienste in den Notfallpraxen übernehmen, sozialversicherungspflichtig sind, schlägt hohe Wellen. Als direkte Folge ist die Notfallpraxis Schorndorf ab sofort geschlossen. Zudem müssen die Öffnungszeiten der Notfallpraxen Backnang und Winnenden eingeschränkt werden. Der Vorsitzende der Ärzteschaft Backnang, der Allgemeinmediziner Jens Steinat, ist höchst verärgert über dieses Urteil. In einer Pressekonferenz in den Räumen des Rems-Murr-Klinikums Winnenden spricht der Arzt aus Oppenweiler gestern von einer „bodenlosen Unverschämtheit, wie mit uns umgegangen wird“.

Worum geht es im BSG-Urteil? In den Notfallpraxen der kassenärztlichen Vereinigungen arbeiten bundesweit Ärzte als sogenannte Poolärzte mit. Diese Tätigkeit ist freiwillig, wird freiberuflich vergütet und zum Beispiel oft von Ruheständlern ausgeübt. In Baden-Württemberg gibt es bisher etwa 3000 Poolärzte, im Rems-Murr-Kreis etwa 100. Sie haben zusammen mit den niedergelassenen Ärzten, die sich für einen allgemeinen Notdienst befähigt sehen, die Notfallpraxen am Laufen gehalten. Diese Poolärzte haben auch die Notfalldienste von Fachärzten wie etwa Hautärzten oder Pathologen übernommen. Die bisherige Regelung wurde nun gekippt, weil ein Zahnarzt auf sozialversicherungspflichtige Beschäftigung geklagt hatte. Die Kassenärztliche Vereinigung (KV) hat daraufhin beschlossen, die Tätigkeit der Poolärzte sofort zu beenden und ihre Vertragsärzte aufgefordert, Notfallpläne für den Bereitschaftsdienst zu erstellen.

Was sind die Folgen für die Ärzte? Jens Steinat ist mit Herz und Blut Allgemeinmediziner, er kümmert sich an sechs Tagen die Woche um seine Patienten und erledigt die nötige Verwaltungsarbeit zusätzlich bis spät in die Nacht oder sonntags. Seit Jahren hofft er auf Entlastung seitens der Politik, doch ständig tritt das Gegenteil ein. Das jetzige Urteil hat zur Folge, dass all jenen Ärzten, die ohnehin schon am Anschlag arbeiten, noch mehr Dienste aufgebürdet werden. Sie können sich nicht mehr von den Poolärzten entlasten lassen. „Mit dem Urteil ist dem ärztlichen Bereitschaftsdienst in seiner jetzigen und gut funktionierenden Form die rechtliche Grundlage entzogen worden“, beklagt Steinat.

Wer übernimmt jetzt die Dienste in den Notfallpraxen? Die Konsequenz des Urteils ist unter anderem, dass jetzt auch Fachärzte zu solchen Diensten in den Notfallpraxen verpflichtet werden. So wie etwa Katharina Muschel, die stellvertretende Vorsitzende der Ärzteschaft Rems-Murr Süd. Sie ist Gynäkologin und praktiziert in Schorndorf. Gestern erklärte sie eindrücklich, sie haben schon alle möglichen gynäkologischen Notfälle behandelt. Doch selbstkritisch räumte sie auch ein: „Aber ich habe noch nie einen allgemeinen Notdienst gemacht, ich traue mir nicht zu, einen Herzinfarkt zu behandeln und sehe das auch nicht als meine Aufgabe an.“

Was bedeutet die Entwicklung für die Krankenhäuser? Das Urteil wird gravierende Auswirkungen auf die Notaufnahmen der Rems-Murr-Kliniken haben. Diese arbeiten mit den Notfallpraxen räumlich eng verzahnt im „Ein-Tresen-Modell“ zusammen. An einem Empfang wird entschieden, ob ein Patient ein Fall für die Notfallpraxis oder für die Notaufnahme ist. Angela Rothermel, die Leitende Ärztin der Notaufnahme in Schorndorf, nimmt die Urteilsfolgen sehr ernst, „denn sie werden unweigerlich dazu führen, dass mehr Patienten in unseren Notaufnahmen Hilfe suchen“. Und obwohl dort heute schon sieben Tage die Woche rund um die Uhr gearbeitet werde, prognostiziert sie Engpässe in den Notaufnahmen, die mit dem zur Verfügung stehenden Personal kaum zu kompensieren sind. Die Patienten werden auch in den Notaufnahmen mit längeren Wartezeiten rechnen müssen.

Ist die Schließung der Notfallpraxis Schorndorf endgültig? Daniel Schäfer möchte die Notfallpraxis „wenn es irgendmöglich ist wieder öffnen“. Der stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Notfallpraxis Rems-Murr hofft darauf, dass sich in einigen Wochen eine Lösung auftut. Der Allgemeinmediziner aus Waiblingen hat auch das Personal im Blick, „wir haben auch eine hohe Verantwortung den MFAs, den Ärzten und den Kliniken gegenüber, wir wollen wieder zu der bisherigen Versorgung zurück, weil die hervorragend war“. Aber auch dann ist der jetzt bereits angerichtete Schaden laut Steinat groß. „Wir stehen vor einem Scherbenhaufen. Man zerstört hier ohne Not Strukturen.“ Steinat weiß, dass sich MFAs und Ärzte die Arbeitsplätze aussuchen können. Sind sie einmal weg, wird es schwer, wieder neues Personal zu finden.

Wie positioniert sich die Politik? Während Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne) die Entscheidung des Bundessozialgerichts bedauert, ärgert sich Steinat ganz besonders über die Position der SPD-Landtagsfraktion, die von Minister Lucha ein Machtwort fordert. So schreibt deren gesundheitspolitischer Sprecher Florian Wahl, er habe kein Verständnis für die Kassenärztliche Vereinigung, die auf eine voraussehbare Entscheidung des Gerichts so reagiert, als wäre sie vom Himmel gefallen. Lucha solle die Sicherstellungsauftrag für den Notdienst bei der KV einfordern. Wahl: „Er darf sich von der KV Baden-Württemberg nicht auf der Nase herumtanzen lassen.“ Diese Haltung ist für Steinat unfassbar: „Das ist der nächste Affront. Man sieht an dieser Aussage, dass viele Politiker keine Ahnung haben von der Realität und spürt die geringe Wertschätzung, die sie den Ärzten gegenüber aufbringen.“ Steinat dreht den Spieß um: „Dass die Poolärzte nicht mehr eingesetzt werden können, liegt an fahrlässigen politischen Versäumnissen auf Bundesebene und der daraus resultierenden Rechtsprechung.“

Neue Öffnungszeiten

Dienstzeiten Die Notfallpraxen im Rems-Murr-Kreis haben neue Dienstzeiten:

Notfallpraxis Backnang Geöffnet von Montag bis Freitag, jeweils von 18 bis 21Uhr; Samstag, Sonntag und Feiertage jeweils von 8 bis 20 Uhr. Es gibt auch einen Fahrdienst, dessen Nummer unter Telefon 116117 erfragt werden kann.

Notfallpraxis Winnenden (in den Räumen des Rems-Murr-Klinikums Winnenden): Geöffnet Montag, Dienstag und Donnerstag von 18 bis 22 Uhr; Mittwoch und Freitag jeweils von 14 bis 22 Uhr, und Samstag, Sonntag und an Feiertagen jeweils von 8 bis 15 Uhr und von 15 bis 22Uhr. Die chirurgische und die orthopädische Notfallpraxis werden geschlossen. Die Kinder-Notfallpraxis bleibt wie gewohnt geöffnet. Es gibt auch in Winnenden einen Fahrdienst, dessen Nummer unter Telefon 116117 erfragt werden kann. In Winnenden kommen jährlich 40.000 Patienten in die Notfallpraxis und 50.000 Patienten in die Notaufnahme.

Notfallpraxis Schorndorf (in den Räumen der Rems-Murr-Klinik Schorndorf): Die Notfallpraxis wird geschlossen. Sie war Anlaufstation für 20.000 Kranke pro Jahr, 26.000 gingen in die Notaufnahme.

Alle Fachrichtungen Die ärztliche Notfallversorgung muss ab sofort von Medizinern aller Fachrichtungen übernommen werden, also beispielsweise auch von Gynäkologen, Psychiatern, Pathologen, Radiologen oder ärztlichen Psychotherapeuten.

Infos Weitere Informationen unter https://www.notfallpraxis-rems-murr.de/

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Erstellt:
26. Oktober 2023, 06:00 Uhr

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