„Objektiv ist nicht viel passiert“

Waiblinger Jugendschöffengericht rückt vom Vorwurf der sexuellen Nötigung ab und stellt das Verfahren ein. Vorausgegangen ist eine schwierige Wahrheitssuche.

Symbolfoto: Bilderbox/Erwin Wodicka

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Von Hans-Christoph Werner

Backnang/Waiblingen. Vor dem Jugendschöffengericht hat sich ein 21-jähriger Auszubildender wegen sexueller Nötigung zu verantworten. Die Sache entpuppt sich als eine diffizile Angelegenheit für den Vorsitzenden Jugendrichter und die zwei Schöffen. Während die junge Frau das Geschehen als übergriffig schildert, lässt der Angeklagte durch seine Verteidigerin erklären, dass alles im beiderseitigen Einvernehmen geschah. Nach fast vierstündiger Verhandlung wird das Verfahren eingestellt. Der Beschluss ist für den Angeklagten mit einer Geldauflage von 1000 Euro und drei Beratungsgesprächen bei der der Anlaufstelle für sexualisierte Gewalt verknüpft.

In einer Augustnacht 2020 gibt es einen Geburtstag zu feiern. Zwei Schüler sind auch mit dabei, sie 17 Jahre, er 20 Jahre alt. Er spricht reichlich dem Alkohol zu, die Warnungen von ihr überhört er geflissentlich. Nach Mitternacht macht man sich per Taxi auf den Heimweg nach Erdmannhausen. Doch die Fahrgemeinschaft kommt nur bis Aspach. Dann ist dem 20-Jährigen so übel, dass er dringend das Blumenbeet am Fahrbahnrand düngen muss. Von dem Balkon eines nahen Hauses wird das Geschehen beobachtet. Dort sind ein paar junge Männer Shisha rauchend zusammen. Spontan entschließen sich zwei davon, dem Paar zu helfen, insbesondere der jungen Frau, die hilflos neben ihrem im Beet liegenden Freund steht. Einer der jungen Männer geht nochmals los, holt eine Wasserflasche. Und bleibt. Irgendwie entspinnt sich zwischen dem 20-jährigen Helfer, dem späteren Angeklagten, und der jungen Frau ein intensives Gespräch. Es geht um Beziehungen, Liebe und das, was sonst noch so dazugehört. Hat er sie da bereits in den Arm genommen? Oder hat sie sich angelehnt? Vielleicht. Zumindest weicht an dieser Stelle des Geschehens die Benommenheit von dem im Beet liegenden 20-Jährigen insoweit, dass er seiner Freundin heftige Vorwürfe macht und weint. Die Reaktion der jungen Frau ist aber eher Angst. Und so erliegt sie den Avancen ihres Helfers, mit in die Wohnung zu kommen. Die anderen Männer hatten sich in der Zwischenzeit verabschiedet, sodass sich die 17-Jährige mit ihrem Helfer allein in der Wohnung vorfindet. Das heißt: nicht ganz. In einem angrenzenden Zimmer schläft der Wohnungsinhaber. So unterhält man sich im Flüsterton. Die junge Frau, angsterfüllt und in Sorge um ihren draußen liegenden Freund, der 20-Jährige wiederum begeistert sich in seiner Hilfsbereitschaft für die junge Frau. Er küsst sie am Hals, streichelt sie am Rücken. Nebeneinander liegen beide auf dem Sofa. So sagt er. Sie wiederum will auf den Halskuss hin „Nein!“ gesagt haben. Er habe sie, so sagt sie, am Bauch gefasst und sie aufgefordert zu genießen. Dann habe auch mal er auf ihr gelegen. Und sie auf ihm. Irgendwie sei es ihr gelungen, so ihre Schilderung, sich daraus zu befreien. Ihr Ansinnen, gehen zu wollen, kontert er mit der Aufforderung: „Bleib doch!“ Als sie an der Tür steht, bemerkt sie, dass diese abgeschlossen ist. Sie muss sich die Öffnung der Tür durch drei Küsse auf den Mund erkaufen. Zwischenzeitlich sind die frühen Morgenstunden angebrochen. Der Freund der 17-Jährigen hat sich etwas erholt, sitzt an der Bushaltestelle und macht seiner zurückkehrenden Freundin heftige Vorwürfe. Am nächsten Tag erzählt die 17-Jährige das Geschehen ihrer älteren Schwester, gemeinsam gehen sie zur Polizei. Sie habe das Geschehen, so sagt die 17-Jährige in der Verhandlung, nur bekannt machen wollen. Anzeigen wollte sie die Sache nicht. Leider war sie dabei im Irrtum. Der Polizei erzählt man nicht bloß etwas, sondern die leitete die Sache an die Staatsanwaltschaft weiter.

Über eine Stunde lang spricht die 17-Jährige, die mit ihrer Mutter gekommen war, über das Vorgefallene. Und kommt dabei ins Weinen. Der Richter reagiert einfühlsam. Die Vertreterin der Jugendgerichtshilfe empfiehlt die Anwendung des Jugendstrafrechts. Und wenn es zu einer Verurteilung komme, sollten als Auflage Gespräche bei der Anlaufstelle für sexualisierte Gewalt dabei sein. Die Verteidigerin wagt den Vorstoß: Einstellung des Verfahrens? Vielleicht war das Nein der jungen Frau doch nicht so klar. Irgendwelche Gewalt habe ihr Mandant nicht angewendet.

Die Staatsanwältin hat für die Argumentation der Verteidigerin Verständnis, bringt aber eine Geldauflage ins Gespräch. Auch die Nebenklägerin verschließt sich einer solchen Lösung nicht. Das Gericht macht den Vorschlag zum Beschluss. Objektiv, so der Richter, sei nicht viel passiert. Und unterstreicht die Argumentation der Verteidigerin: Gewalt habe der Mann nicht angewendet. Den Tatbestand der sexuellen Nötigung sehe das Gericht als nicht erfüllt an.

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Erstellt:
6. September 2021, 16:00 Uhr

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