Ohne-Arzt-Praxis bislang ohne Patient

Bürger reagieren reserviert auf telemedizinisches Angebot – Betreiber überrascht das nicht – Weiteres Bürgergespräch geplant

Seit drei Monaten gibt es in Spiegelberg die bundesweit erste Fernbehandlungs- und Diagnose-Praxis – Neuland für alle Beteiligten. Das telemedizinische Projekt, das die Heidelberger Philonmed GmbH zusammen mit der Hausarztpraxis Steinat aus Oppenweiler betreibt, ist schleppend angelaufen. Die möglichen Ursachen für die Zurückhaltung der Bürger sind vielfältig.

Will Patienten gerne helfen: Krankenschwester Susanna Euerle wartet in der Praxis darauf, dass das neue Angebot angenommen wird. Foto: J. Fiedler

© Jörg Fiedler

Will Patienten gerne helfen: Krankenschwester Susanna Euerle wartet in der Praxis darauf, dass das neue Angebot angenommen wird. Foto: J. Fiedler

Von Nicola Scharpf

SPIEGELBERG. Die Krankenschwester Susanna Euerle wartet seit der Eröffnung der Ohne-Arzt-Praxis am 21. November immer donnerstags und freitags im Sprechzimmer in der Finkenstraße 24 auf Patienten. Allein, es kommen keine „echten“ Patienten. In den ersten drei Monaten ihres Bestehens haben sich zwar Patienten, die die Betreiber zum Besuch der Telemedicon-Praxis eingeladen haben, behandeln lassen. Aber von sich aus ist noch niemand dort gewesen. Susanna Euerle ist eine berufserfahrene medizinische Fachkraft. Es ist wohl auch nicht Skepsis gegenüber der Fachkraft, die die Spiegelberger Bürger vom Besuch der Ohne-Arzt-Praxis abhält.

Eine Praxis zu betreiben, in der sich der behandelnde Arzt von einem anderen Ort aus per Videokonferenz ins Sprechzimmer zuschaltet und aus der Ferne diagnostiziert, ist neu. Die Heidelberger Philonmed GmbH beziehungsweise ihr Gründer und Geschäftsführer Tobias Gantner betritt mit dem Betrieb der Fernbehandlungs- und Diagnose-Einrichtung Neuland. Auch Hausarzt Jens Steinat aus Oppenweiler, der an dem Projekt beteiligt ist, indem er seinen Patienten das Angebot der telemedizinschen Behandlung macht, betritt Neuland. Die Menschen in Spiegelberg haben das Neuland bislang noch nicht betreten.

In Spiegelberg gibt es ungefähr 200 Senioren ab einem Alter von 70 Jahren, so die Schätzung von Eugen Ritter, der die Ortsgruppe des Deutschen Roten Kreuzes leitet und sich stark in die Seniorenarbeit im Ort einbringt. Er steht also in gutem Kontakt mit potenziellen Ohne-Arzt-Praxis-Patienten und glaubt, das Hauptproblem sei, dass sich die Menschen nicht trauen. So genau habe er es aber nicht herausgehört, was die Gründe für die Scheu sind. Persönlich finde er das Projekt zwar „richtig gut“, genutzt habe er die Ohne-Arzt-Praxis bislang aber nicht – weil er noch Auto fährt. „Die Leute, die mobil sind, erreicht man mit dieser Praxis nicht“, macht Ritter ein weiteres Problem aus. Auch für diejenigen, die auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sind, sei die Ohne-Arzt-Praxis schwer erreichbar.

Suse Greiner-Pflaum sieht die Ursachen anderswo begründet. Die Fachkraft für Demenz und Edukationstrainerin leitet für das örtliche DRK zwei Seniorensport-Gruppen mit jeweils 15 bis 20 Teilnehmern. Kurz nachdem die Praxis im November gestartet ist, hat die medizinische Fachkraft Euerle den Gruppen sich und die Ohne-Arzt-Praxis vorgestellt. „Es sind die meisten Fragen beantwortet und Ängste genommen worden“, sagt Greiner-Pflaum über das „gute Gespräch“ von damals. Ihrem Eindruck nach sei bei den Senioren die Information angekommen, dass man umdenken und sich an neue Strukturen gewöhnen müsse, wenn man Lücken in der ärztlichen Versorgung entgegenwirken wolle. Untersuchungen, die mit dem Einsatz von Computern funktionieren: Das sei sehr befremdend für Menschen, die nicht schon mit PCs aufgewachsen sind. Trotzdem: „Die Leute sind offen und interessiert an dem Angebot“, beschreibt sie die Stimmung. „Die Hürde ist“, so Greiner-Pflaum, „dass es an einen Arzt gekoppelt ist. Es werden nicht genug Leute erreicht.“

Die Gemeinde Spiegelberg ist an dem Projekt insofern beteiligt, als dass sie die Räumlichkeiten stellt. Bürgermeister Uwe Bossert sagt zum Ausbleiben der Patienten: Wenn sich die Frequenz weiterhin nicht erhöhe, müsse sich der Betreiber Gedanken darüber machen, wie lange das Projekt weitergeführt werden soll. Schließlich sei die Ohne-Arzt-Praxis teilweise über Steuergelder finanziert.

Für das Projekt ist eine Laufzeit bis Februar 2021 vorgesehen. Der Betreiber bestätigt, dass es unverantwortlich wäre, die Praxis bis 2021 offen zu halten, wenn sie keine Akzeptanz bei den Bürgern fände. Denn Philonmed investiere eben nicht nur private Gelder, sondern finanziere das Projekt anteilig durch Steuermittel.

Für das Forschungsprojekt sind die Bedingungen nicht optimal

Allerdings sei das Modell nicht auf Spiegelberg begrenzt, sondern bundesweit geöffnet. „Drei Monate sind für solch ein Forschungsprojekt kein Zeitraum, in dem man belastbare Bewertungen treffen sollte“, sagt Philonmed-Geschäftsführer Tobias Gantner, räumt aber ein, dass die infrastrukturellen Gegebenheiten, die Philonmed zum jetzigen Zeitpunkt in Spiegelberg vorfindet, für das Forschungsprojekt nicht optimal sind. Die Menschen im Ort würden offenbar über eine gute und gut angenommene medizinische Infrastruktur verfügen – offenbar anders als es von einem Teil der Bürger in Bürgersprechstunden wahrgenommen worden sei.

Dennoch hält Gantner an seinem Ziel fest: „2021 wollen wir Ergebnisse liefern können, die dazu beitragen, die medizinische Versorgung von morgen zu gestalten.“ Spiegelberg sei bisher die einzige Praxis, die operativ geöffnet habe. Aber Philonmed sondiere mit mehreren Standorten in mehreren Bundesländern. Gantner ist überzeugt, dass Konzepte, die telemedizinische Kompetenz mit dem direkten Kontakt zu den Menschen verbinden, in einigen Jahren zum Standard-Repertoire gehören, zumal auf dem Land.

Dass die Menschen in Spiegelberg dem telemedizinischen Angebot in ihrem Ort bislang reserviert gegenüber stehen, kommt für Philonmed nicht überraschend. Das wisse man aus anderen Ländern, in denen Telemedizin schon eine größere Rolle spiele als in Deutschland – wie etwa Estland oder Finnland. Die Menschen seien es eben gewohnt, ihrem Arzt gegenüberzusitzen. „Diese Gewohnheiten werden sich ändern müssen, die Demografie zwingt uns dazu.“ Gleichzeitig sei es die Aufgabe von neuen Versorgungskonzepten herauszufinden, wie sie Menschen am besten bedienen und Mehrwert leisten können. Auf Spiegelberg bezogen heißt das: Die Bürger wurden und werden befragt, sie werden in die Praxis eingeladen und im März soll ein Bürgergespräch in Kooperation mit der Gemeinde stattfinden. Auch Krankenschwester Susanna Euerle ist im Dorf präsent, besucht Vereine und sucht den Kontakt zu den Menschen. Sie möchte Patienten gerne helfen können – und nicht auf Kundschaft warten müssen.

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Erstellt:
24. Februar 2020, 06:00 Uhr

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