Ortega schaltet vor Wahl Opposition aus

dpa Managua. Sie werden verhaftet, misshandelt oder verschwinden ganz: Nicaraguas Oppositionelle leben in Angst. Manche früheren Mitstreiter Ortegas sehen in ihm das, was sie einst zusammen bekämpften: einen Diktator.

Wahlwerbung für Daniel Ortega. Foto: Miguel Andres/AP/dpa

Wahlwerbung für Daniel Ortega. Foto: Miguel Andres/AP/dpa

Juan Sebastián Chamorro weiß genau, in welche Gefahr ihn sein politisches Ziel bringt. „Wenn ihr dieses Video seht, dann bin ich isoliert oder gefangen genommen worden“, sagt der Mann, der in den Präsidentenpalast von Managua einziehen will.

Kurz nach der Aufnahme des Clips wird er festgenommen und für 90 Tage in Untersuchungshaft gesteckt - rechtlichen Beistand bekommt er nicht.

Im November wird in Nicaragua ein neues Staatsoberhaupt gewählt. Und Chamorro ist einer von fünf Bewerbern um die Präsidentschaftskandidatur von Oppositionsbündnissen, die innerhalb weniger Wochen festgenommen worden sind. Die erste war seine Cousine Cristiana Chamorro, die Tochter der früheren Staatschefin Violeta Barrios de Chamorro, die seit Anfang Juni unter Hausarrest steht. Seitdem wurden mehr als ein Dutzend Oppositionelle festgenommen. Die Staatsanwaltschaft bestellt Journalisten, Unternehmer und Stiftungspersonal für Verhöre zu sich.

In der Nacht auf Montag nahmen Polizisten den Journalisten und Oppositionskandidaten Miguel Mora Barberena fest - der fünfte potenzielle Präsidentschaftskandidat hinter Gittern. Ihm werde vorgeworfen, die Unabhängigkeit und Souveränität des mittelamerikanischen Landes zu untergraben, eine Intervention ausländischer Kräfte voranzutreiben und Wirtschaftssanktionen gegen die Regierung zu unterstützen, hieß es in einer Mitteilung der Polizei. Mora ist Eigentümer des regierungskritischen Senders 100% Noticias und war bereits 2018 vorübergehend inhaftiert worden.

Für Cristianas Bruder Carlos Chamorro - und viele andere Oppositionelle - ist die Lage klar: „Die einzige plausible Erklärung für diese irrationale Attacke ist, dass Ortega zu dem Schluss gekommen ist, dass er niemals eine umkämpfte Wahl gegen einen Kandidaten einer vereinigten Opposition gewinnen könnte“, sagt der Journalist und Herausgeber in einem Video seines Portals „Confidencial“ über den Staatspräsidenten. Dieser wolle mit aller Macht eine Einparteienherrschaft wie in Kuba und Venezuela durchsetzen.

Ortegas Verhältnis zu den Chamorros ist ein spezielles - Violeta Barrios de Chamorro besiegte den Ex-Revolutionär bei der Wahl 1990. Aber es ist längst nicht nur diese Familie, die davor warnt, was in Nicaragua vor sich geht. Die Europäische Union und die Organisation Amerikanischer Staaten haben das Vorgehen Ortegas verurteilt und die Freilassung der Kandidaten sowie eine faire Wahl gefordert. Die USA haben neue Sanktionen verhängt - unter anderen gegen Ortegas Tochter.

Ortega schweigt

Ortega hat sich zu alldem bisher nicht direkt geäußert - er lässt sich nur noch äußerst selten in der Öffentlichkeit blicken. Die Vizepräsidentin, seine Ehefrau Rosario Murillo, wendet sich aber immer wieder in Radioansprachen an die Nation. Dabei ist viel von Gott die Rede. Sie wettert aber auch gerne gegen die „Imperialmacht“ USA, die in den 1980er Jahren, während Ortegas erster Zeit an der Macht, die „Contra“-Rebellen finanzierte. Murillo wirft den USA vor, auch heute Terroristen und Putschisten in Nicaragua zu unterstützen.

Einen Grundstein für das harte Vorgehen gegen die Opposition legten Ortegas Sandinisten, die das Parlament kontrollieren, Ende vergangenen Jahres mit der Verabschiedung mehrerer Gesetze. Nach einem davon werden Personen und Organisationen in Nicaragua, die Geld aus dem Ausland erhalten, als „ausländische Agenten“ von politischen Aktivitäten ausgeschlossen. Ein anderes sieht Haftstrafen für die Verbreitung „falscher Informationen“ in elektronischen Medien vor. Durch die vage Formulierung hat die Regierung großen Spielraum, unliebsame Kritiker mundtot zu machen.

Bei der neuen Verhaftungswelle berufen sich die Behörden aber fast immer auf das „Gesetz zur Verteidigung der Rechte des Volkes auf Unabhängigkeit, Souveränität und Selbstbestimmung für den Frieden“ vom Dezember. Wer demnach etwa einen Staatsstreich anführt, zu ausländischer Einmischung anstiftet, terroristische Handlungen schürt oder Sanktionen gegen Nicaragua gutheißt, der wird als „Vaterlandsverräter“ gebrandmarkt - und darf nicht für ein gewähltes Amt kandidieren.

Demonstrationen brutal niedergeschlagen

Dem vorausgegangen waren Demonstrationen ab April 2018, bei denen erst gegen eine Sozialreform protestiert, später aber auch eine Neuwahl gefordert wurde. Die Regierung stellte die Demos, an denen sich Hunderttausende der rund 6,3 Millionen Landesbewohner beteiligten, als Putschversuch politischer Gegner dar - und ließ sie brutal niederschlagen: Es gab mehr als 300 Tote und Hunderte Festnahmen, mehr als 100 Menschen sitzen laut Aktivisten seit damals wegen ihrer politischen Überzeugungen im Gefängnis. Mehr als 100.000 Nicaraguaner flüchteten ins Ausland.

Ihr Mann sei „technisch gesehen verschwunden“, erzählt Berta Valle, Ehefrau des inhaftierten Präsidentschaftskandidaten Félix Maradiaga, bei einer Videoschalte mit Journalisten. Bei seiner Festnahme am 8. Juni wurde der Akademiker nach Angaben seines Büros „heftig geschlagen“. Seitdem gibt es keine Angaben über Maradiagas Aufenthaltsort und seinen Zustand. „Wir haben große Sorgen um sein Wohlergehen, weil wir aus Erfahrung wissen, dass in diesen Gefängnissen des Regimes gefoltert und vergewaltigt wird“, sagt Valle.

Nach dem Sturz von Anastasio Somoza, dessen Familie seit 1936 geherrscht hatte, durch die linken Sandinisten 1979 war Ortega - erst mit einer Junta, dann als Präsident - schon bis 1990 an der Macht gewesen. Seit 2007 regiert der heute 75-Jährige Nicaragua erneut. Im Jahr 2014 verabschiedete seine Partei eine Verfassungsreform, mit der die bis dahin geltende Begrenzung der Amtszeit eines Präsidenten abgeschafft wurde.

Unter den nun Festgenommenen sind auch einstige Mitstreiter Ortegas. Etwa der inzwischen in der Opposition aktive General außer Dienst Hugo Torres, der vor seiner Festnahme ebenfalls ein Video aufnahm. „Ich bin 73 Jahre alt. Ich hätte nie gedacht, dass ich in diesem Stadium meines Lebens gegen eine neue Diktatur kämpfen würde“, sagt er darin. Torres war einer der Sandinisten, die 1974 eine Feier im Privathaus des Agrarministers stürmten, Geiseln nahmen und die Freilassung mehrerer Häftlinge erzwangen - darunter Ortega, der sieben Jahre wegen Bankraubs abgesessen hatte.

„Vor 46 Jahren habe ich mein Leben riskiert, um Daniel Ortega und andere Kameraden, die politische Gefangene waren, aus dem Gefängnis zu holen“, erinnert sich Torres. „So sind die Wendungen des Lebens.“

© dpa-infocom, dpa:210622-99-91388/4

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Erstellt:
22. Juni 2021, 10:23 Uhr

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