Bildung und Migration
Pisa-Chef: In Deutschland sind oft „ganze Schulen aus dem Gleichgewicht“
Der Chef der Pisa-Studie, Andreas Schleicher, stellt dem deutschen Bildungssystem ein schlechtes Zeugnis aus, wenn es um die Bewältigung der Herausforderungen durch Migration geht.

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Ungleiche Chancen: Laut Bildungsforschern sind die Chancen in deutschen Schulen nicht gerecht verteilt.
Von Tobias Peter
Die Probleme im deutschen Bildungssystem beginnen schon vor dem ersten Schultag. Davon ist der OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher überzeugt. Das gelte auch und gerade für das Thema Schule und Migration – sagt der Mann, der die Pisa-Studie verantwortet, im Gespräch mit unserer Redaktion.
Herr Schleicher, verstehen Sie Eltern, die ihre Kinder lieber nicht auf eine Schule schicken wollen, in der sehr viele Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund sind?
Es ist ein riesiges Problem, wenn ein Bildungssystem sich nicht ausreichend und nicht erfolgreich um Kinder mit Migrationshintergrund kümmert. Und wenn dadurch ganze Schulen aus dem Gleichgewicht geraten. Das ist in Deutschland leider viel zu oft der Fall.
Die Suche nach der richtigen Schule und der Kampf, das eigene Kind dort unterzubringen, wird für viele Eltern zur Qual.
Das ist fraglos so. Und ich sage auch: Natürlich kann ich Eltern verstehen, wenn sie ihre Kinder lieber auf eine Schule schicken wollen, an der es die entsprechenden Probleme nicht gibt. Wer wünscht sich nicht die beste Bildung für seine Kinder?
Was funktioniert hier nicht im deutschen Bildungs-system?
Dieses Problem beginnt früh – lange bevor die Kinder in Schule gehen. Gut ausgestattete Kitas mit klarem Bildungsauftrag sind der beste Weg, um sicherzustellen, dass alle Mädchen und Jungen, die eingeschult werden, die Sprache ausreichend beherrschen. Dazu gehören auch verbindliche Sprachtests und frühe Diagnostik. Hier wird in Deutschland zu wenig getan. Wenn die sprachliche Grundlage bei zu vielen Kindern in einer Klasse fehlt, wird es für die Lehrerinnen und Lehrer schwer. Ihnen mache ich keinen Vorwurf. Sie brauchen mehr Unterstützung.
Mangelt es allein an frühkindlicher Bildung?
Nein – auch wenn das ein sehr gewichtiger Faktor ist. Ein weiteres Problem ist: Deutschland verteilt das vorhandene Geld im Bildungssystem nicht klug. Die Schulen mit den größten Herausforderungen brauchen die meisten Ressourcen. Für diese Schulen müssen wir auch die besten Lehrerinnen und Lehrer gewinnen, mit einer attraktiven Arbeitsumgebung, interessanten Karriereperspektiven und guter Ausstattung. Das Startchancenprogramm macht hier einen Anfang.
Ist der springende Punkt die Migration oder geht es in erster Linie doch um soziale Probleme, mit denen Schulen überfordert sind?
Das Problem liegt in der Kombination. Wenn Migrationshintergrund, Sprachprobleme und wirtschaftlich schwache Verhältnisse zusammenkommen, und das ist ja oft der Fall, wird es schwer. Wenn ein Bildungssystem Schüler aus sozial ungünstigen Verhältnissen dann noch in bestimmten Schulformen konzentriert, einschließlich der Schüler mit Migrationshintergrund, dann können die Herausforderungen oft nicht mehr gemeistert werden. All das sind Gründe, warum Deutschland es hier besonders schwer hat.
Das klingt gravierend.
Am Anteil der Schüler mit Migrationshintergrund liegt es ja nicht, er ist ja vergleichbar mit Ländern wie den USA, Schweden, Belgien oder Österreich und deutlich kleiner als in Ländern wie der Schweiz, Kanada oder Australien. Das deutsche Bildungssystem muss einfach besser werden, wenn es darum geht die Herausforderungen zu bewältigen, die aus der Migration entstehen.
Ist das der Grund für die katastrophalen deutsche Pisa-Ergebnisse?
Nein, damit würde man es sich zu einfach machen. Der gestiegene Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund erklärt nur einen kleinen Teil der schlechteren Pisa-Ergebnisse. Das deutsche Bildungssystem gibt auch Schülerinnen und Schülern aus ärmeren und bildungsfernen Schichten ohne Migrationshintergrund keine faire Chance.
Die deutsche Bildungsministerin Karin Prien hat eine Quote für Kinder mit Migrationshintergrund an den Schulen als „denkbares Modell“ bezeichnet. Stimmen Sie zu?
Karin Prien hat recht, dass viel mehr dafür getan werden muss, Kinder mit Migrationshintergrund und Sprachdefiziten besser über die Schulen zu verteilen. Es wird ja alles viel einfacher, wenn nur eine überschaubare Anzahl von Kindern mit Nachholbedarf bei der Sprache in einer Klasse ist. Man braucht hier flexible Lösungen, vielleicht auch Quoten. Eine einzige Lösung wird aber nicht überall funktionieren. Aber wenn eine Lösung nicht überall funktioniert, heißt das ja nicht, dass wir sie nirgendwo einsetzen sollten. Andere Länder sind hier kreativer.
Zum Beispiel?
Im flämischen Teil Belgiens geben Eltern drei Wunschschulen an. Dann füttert man ein Computerprogramm mit Daten nicht nur zum Migrationshintergrund, sondern auch zur Bildung der Eltern und den sozialen Verhältnissen. Das Programm kommt damit den Wünschen der Eltern entgegen und stellt gleichzeitig eine gute Sozialmischung für alle Schulen sicher.
Würde das in Deutschland nicht schon am Datenschutz scheitern?
Gute Bildung für die Kinder sollte an gar nichts scheitern.
Eltern zahlen oft viel Geld dafür, in einem Stadtteil zu leben, der als geordnet gilt. Werden sie nicht verständlicherweise alles tun, um zu verhindern, dass ihre Kinder anderswo zur Schule müssen?
Auch hier gilt: Die Frage, wie Geld und Personal im System verteilt werden, kann viel verändern. Brennpunktschulen müssen so gut ausgestattet werden und so umfassende Betreuungsangebote bekommen, dass alle gern ihre Kinder dorthin schicken wollen. Eltern müssen wissen: Hier gibt es zwar viele Kinder mit Migrationshintergrund – aber die Schule ist einfach richtig gut. Dann ist es für jede Familie, in der zum Beispiel beide Eltern arbeiten, doch hochattraktiv, wenn die eigenen Kinder dort zur Schule gehen.
Können Sie ein positives Vorbild nennen?
Schauen Sie nach Irland, einem anderen Land mit hohem Migrationsanteil. Aber dort sind die Leistungsunterschiede zwischen den Schulen sehr viel geringer als in Deutschland. Dort ist die nächste Schule also fast immer die beste Schule. Das heißt, die Schulwahl ist für Eltern dort keine schwierige Frage.
Die Debatte über die Folgen von Migration für die Schulen wird oft sehr emotional geführt – und ist mit vielen Ängsten verbunden. Welche positiven Aspekte sehen Sie?
Kinder können viel lernen, wenn sie mit Gleichaltrigen zusammen sind, deren Wurzeln anderswo liegen. Vielfalt kann ein großer Gewinn sein – wenn die Bildungspolitik gut gemacht ist. Das gilt auch für die Lehrerschaft: Wir müssen mehr Lehrer mit Migrationshintergrund gewinnen. Sie können Vorbilder sein und zeigen, was gelungene Einwanderung ausmacht.
Ungewöhnliche Bildungsbiografie
Bildungsforscher Andreas Schleicher hat Physik und Mathematik studiert. Als Statistikexperte arbeitete er früh an Bildungsstudien mit. Schleicher hat bei der OECD die Pisa-Studie entwickelt, in der es um die Kompetenzen von 15-Jährigen geht.
Kindheit In der Grundschule wurde Schleicher von seinem Lehrer als „ungeeignet fürs Gymnasium“ eingestuft. Sein Vater schickte ihn auf eine Waldorfschule. Dort legte er sein Abitur mit 1,0 ab.