Plätze für geflüchtete Jugendliche fehlen im Rems-Murr-Kreis

Das Kreisjugendamt hat nicht genügend Kapazitäten für die Unterbringung von unbegleiteten minderjährigen Ausländern (Uma). Es fehlt vor allem am Betreuungspersonal. Die Zahl der Kinder und Jugendlichen steigt aber weiter an.

Der Kreis hat so viele Kinder und Jugendliche auf der Flucht zu betreuen, dass die Plätze knapp werden. Einige von ihnen sind daher im Haus Emma der Erich-Schumm-Stiftung in Murrhardt untergebracht, welches als Gemeinschaftsunterkunft dient. Archivfoto: Jörg Fiedler

© Jörg Fiedler

Der Kreis hat so viele Kinder und Jugendliche auf der Flucht zu betreuen, dass die Plätze knapp werden. Einige von ihnen sind daher im Haus Emma der Erich-Schumm-Stiftung in Murrhardt untergebracht, welches als Gemeinschaftsunterkunft dient. Archivfoto: Jörg Fiedler

Von Lorena Greppo

Rems-Murr. Die Betreuung der unbegleiteten minderjährigen Ausländer (Uma), die in den Rems-Murr-Kreis kommen, stellt die zuständigen Behörden vor große Herausforderungen. Landrat Richard Sigel sprach in der jüngsten Sitzung des Jugendhilfeausschusses des Kreistags von einer Herkulesaufgabe. Jugendamtsleiter Holger Gläss gab einen Sachstandsbericht wieder, der die Probleme klar aufzeigte. „Wir kämpfen seit einem Dreivierteljahr damit, mehr Uma unterzubringen“, sagte er. Die Jugendämter im Land sind für die Inobhutnahme der Uma zuständig. Und deren Zahl sei stark gestiegen. Seit Anfang April 2022 hat sich die Zahl der untergebrachten Uma im Rems-Murr-Kreis von 57 auf 109 (Stand 3. März) fast verdoppelt. Bemerkenswerterweise führte Gläss aus: „Es sind keine Ukrainer, die die Zahlen ansteigen lassen.“ Von dort kämen die meisten Kinder und Jugendlichen in Begleitung ihrer Familien. Die Uma stammten zu großen Teilen aus Afghanistan (39 Prozent) und Syrien (31 Prozent).

Zur Einordnung: Die Zahl der in Baden-Württemberg lebenden Uma war in den Jahren 2015/2016 höher als es im Moment der Fall ist. „Allerdings gab es damals rund 2000 betriebserlaubte Jugendhilfeplätze mehr als derzeit“, heißt es vonseiten der Kreisverwaltung. Es sei unheimlich schwierig, innerhalb kurzer Zeit neue Plätze zu schaffen, vor allem da die freien Träger keine Fachkräfte zur Betreuung der Jugendlichen finden. „Wir schaffen es im Moment noch“, sagte Gläss, „aber ich weiß nicht, wie wir die nächste Krise bewältigen sollen.“ Denn, auch daraus machte er keinen Hehl, eigentlich müsste der Kreis laut Verteilungsschlüssel des Landes noch einige Uma mehr aufnehmen. „Wir sind aktuell mit 20 Plätzen im Minus.“ Anfang Februar waren es sogar noch 35.

Neue Regelungen erlauben eine Notfallunterbringung

Dass die Jugendämter immer mehr an und über ihre Grenzen kommen, haben Landkreistag, Städtetag und der Kommunalverband für Jugend und Soziales (KVJS) Ende 2022 und Anfang 2023 mehrfach gegenüber der Landesregierung und dem Sozialministerium zum Ausdruck gebracht. Zitat: „Die Unterbringung und Versorgung von Uma in Baden-Württemberg ist vor dem Hintergrund der aktuellen Gesamtsituation – trotz rechtlicher Verpflichtung – faktisch nicht mehr leistbar.“ Nachdem Platzkapazitäten in Jugendhilfeeinrichtungen in den vergangenen Jahren landesweit tendenziell eher ab- als aufgebaut wurden und aufgrund des Fachkräftemangels ein zeitnaher Ausbau von Plätzen in Wohngruppen, betreutem Jugendwohnen, Jugendwohngemeinschaften oder in Gastfamilien derzeit nicht umsetzbar ist, stellt diese Entwicklung die Jugendämter und freien Jugendhilfeträger in ganz Baden-Württemberg vor große Herausforderungen, heißt es auch in der Sitzungsvorlage des Ausschusses.

Erleichterung schaffte dem Rems-Murr-Kreis, dass die Gesetzgebung nun auch eine „Notfallunterbringung zur Vermeidung von Obdachlosigkeit von Uma“ erlaubt. Das heißt, sie können in Gemeinschaftsunterkünften, Hotels oder Pensionen ambulant betreut werden. Mit dem Aufbau neuer Gruppen durch das SOS Kinderdorf, die Paulinenpflege Winnenden und die Aufnahme von Uma in der Gemeinschaftsunterkunft in Murrhardt konnten so einige Personen untergebracht werden.

„Wir brauchen vor allem Plätze für 16- und 17-Jährige aus Afghanistan und Syrien“

Es handele sich dabei um Notlösungen, sagte auch Holger Gläss. „Ideal ist das nicht.“ Denn die sieben Jugendlichen, die in den Gemeinschaftsunterkünften wohnen, werden nur unter der Woche tagsüber von Fachkräften der freien Träger betreut. Nachts und an den Wochenenden sind lediglich Security-Kräfte vor Ort. „Aber wir sind dankbar für diese Möglichkeit, denn anders würden wir es gar nicht stemmen können“, erklärte Gläss.

Zu Beginn des Ukrainekriegs hätten auch viele Familien ihre Bereitschaft erklärt, Uma privat aufzunehmen. „Ich weiß aber nicht, ob sie sich da wegen der Hautfarbe, der Religion oder Ähnlichem Gedanken gemacht haben“, führte Gläss aus. Er wolle niemandem Böses unterstellen, glaube aber, dass die meisten mit ukrainischen Kindern gerechnet hätten. „Wir brauchen aber vor allem Plätze für 16- und 17-Jährige aus Afghanistan und Syrien.“ Da sei die Bereitschaft vieler Menschen zur Aufnahme nicht mehr ganz so groß.

Neben der quantitativen Problematik der Aufnahme gebe es auch qualitative Herausforderungen. Denn viele der Kinder bräuchten eine besondere Betreuung. Holger Gläss nannte als Beispiel ein junges Mädchen mit HIV, einer Hörbehinderung sowie psychischen Problemen. „Das hat alle möglichen Menschen sehr lange beschäftigt, bis wir für sie eine geeignete Unterbringung hatten.“ Ein anderes Beispiel: Vor wenigen Wochen hat ein Jugendlicher einem anderen im Streit mit dem Messer in den Rücken gestochen. Eine Ursache des Streits war laut Gläss die Sprachbarriere, die zu Missverständnissen geführt hatte. „Das sind schwierige Situationen, so etwas löst eine Krise im Amt aus“, schilderte der Jugendamtsleiter. Dass nur wenig davon an die Öffentlichkeit kommt, liegt laut Landrat Sigel an dem engagierten Team im Jugendamt, „das sich frühzeitig und mit viel Herzblut kümmert, auch und gerade bei Konflikten und Problemfällen“.

Die Zahl der Pflichtaufgaben im Jugendamt nimmt zu

Verteilung Die in Deutschland ankommenden Uma werden auf Bundesebene auf die Bundesländer und in den Bundesländern auf die Stadt- und Landkreise möglichst gleichmäßig verteilt, sofern keine Verteilhindernisse wie gesundheitliche Probleme oder verwandtschaftliche Beziehungen ein Absehen von der Verteilung nahelegen. Für den Rems-Murr-Kreis bedeutet dies, dass seit April 2022 bereits 50 Uma zusätzlich untergebracht wurden und aktuell noch weitere 20 aufgenommen werden müssen, um eine ausgeglichene Bilanz zu erreichen. Da aber weiter Uma einreisen, wächst auch diese Zahl kontinuierlich an.

Arbeitsbelastung Der Anstieg der Uma-Zahlen und auch der Zuzug von geflüchteten (in der Regel begleiteten) Kindern und Jugendlichen aus der Ukraine haben zu einem massiven Anstieg von Pflichtaufgaben im Jugendamt geführt, heiß es vonseiten der Kreisverwaltung. „Um dies bewältigen zu können, wurden zur Steuerung und Koordinierung der Arbeit vom Kreisjugendamt frühzeitig amtsintern, mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Ämtern im Landratsamt sowie mit externen Institutionen und den freien Trägern verbindliche Strukturen zur gegenseitigen Information, Planung und Zusammenarbeit aufgebaut.“

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Erstellt:
29. März 2023, 06:00 Uhr

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