Bluttat an Schule als Zeichen steigender Jugendgewalt?

dpa/lsw Östringen. Nach der Pause geht ein 13-jähriger Realschüler mit einem Messer bewaffnet auf einen Gleichaltrigen los, sticht mehrfach auf ihn ein. Die Tat und eine ähnliche in Sachsen-Anhalt erschüttern. Doch sind sie ein Zeichen wachsender Gewalt unter Jugendlichen?

Einsatzfahrzeuge stehen vor einer Realschule. Foto: Julian Bucher/Einsatzreport 24/dpa

Einsatzfahrzeuge stehen vor einer Realschule. Foto: Julian Bucher/Einsatzreport 24/dpa

Der Messerangriff eines 13-Jährigen auf einen Mitschüler in Östringen (Kreis Karlsruhe) ist aus Expertensicht ein Einzelfall. „Solche Fälle sind extrem selten“, sagte Matthias Schneider, Geschäftsführer der Lehrergewerkschaft GEW in Baden-Württemberg am Dienstag. Zahlen dazu seien schwer zu vergleichen, weil früher nicht jeder Fall in die Statistik eingegangen sei. Die tatsächliche Belastung der Schulen durch Gewaltexzesse sei deutlich geringer, als es oft den Eindruck mache, heißt es auch in einer Broschüre des Kultusministeriums in Stuttgart. Das Deutsche Jugendinstitut berichtet ebenfalls, dass von „Brutalisierung von Jugendgewalt“ keine Rede sein könne.

Der Chef der Deutschen Polizei-Gewerkschaft, Rainer Wendt, hingegen sagte am Dienstag der Deutschen Presse-Agentur: „Schule ist kein geschützter Raum mehr. Da sitzen Jungs, die finden es toll, dass sie ein Messer dabei haben.“ Lehrer sollten auch ohne gerichtlichen Beschluss die Taschen der Schüler durchsuchen dürfen, forderte er. Und sie müssten etwa wissen, wenn ein Schüler in der Freizeit wegen Gewaltbereitschaft auffalle. Dass die Lehrkräfte darüber informiert würden, verhindere im Moment aber der Datenschutz, so Wendt.

Jugendgewalt ereigne sich meist unter männlichen Jugendlichen, so das Deutsche Jugendinstitut. Zwar gebe es nach einem längeren Rückgang von körperlicher Gewalt einen Anstieg in einzelnen Schulformen - vor allem an Hauptschulen, schreiben die Fachleute in einer Analyse von Daten der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung. Die Zahl der erfassten Knochenbrüche bei „Raufunfällen“ an Schulen sei aber „seit Jahren auf einem nahezu gleichbleibenden, sehr niedrigen Niveau“.

Bei dem Vorfall am Montag in einer Realschule in Östringen hatte der Jugendliche nach einer Pause mit dem Messer mehrfach auf den Oberkörper des gleichaltrigen Mitschülers aus einer anderen siebten Klasse eingestochen. Die beiden seien seit längerem zerstritten gewesen, sagte eine Polizeisprecherin. Hinweise auf ein konkretes Motiv des Angreifers gab es am Dienstag noch nicht. Unklar sei auch, inwiefern er die Tat geplant und das Messer extra zur Schule mitgebracht habe. Der Verletzte sei aber außer Lebensgefahr. Die Teenager und ihre Familien würden eng durch das Jugendamt betreut.

Am selben Tag soll eine 14-Jährige in einer Schule in Salzwedel (Sachsen-Anhalt) einen gleichaltrigen Mitschüler mit einem Messer am Rücken verletzt haben. Das Motiv für den Angriff war zunächst unklar.

Auch wenn derartige Gewaltausbrüche selten vorkommen, erregen sie immer wieder Aufsehen. 2018 beispielsweise hatte ein Schüler im nordrhein-westfälischen Lünen einen Mitschüler auf dem Flur einer Gesamtschule erstochen. Ein Gericht verurteilte den 16-Jährigen zu sechs Jahren Jugendstrafe wegen Körperverletzung mit Todesfolge.

Das Landeskriminalamt Baden-Württemberg hat aus den Statistiken herausgefiltert, bei welchen Delikten in der Schule oder auf dem Schulweg Schüler Opfer waren - wer die Taten begangen hat, wird dabei nicht unterschieden. Demnach waren im Südwesten vergangenes Jahr 1076 Körperverletzungen zu verzeichnen. 2018 waren es 859. Dabei machte die Behörde keine Angaben zur Schwere der Verletzungen. Die Zahl der Nötigungen von Schülern lag 2019 bei 36, die der Bedrohungen bei 98.

Als mögliche Ursachen für Jugendgewalt zählt die Polizei unter anderem auf, dass man zu Hause in der Familie Gewalt als Mittel der Konfliktlösung erlebt habe. Konsum entsprechender Medien, Perspektiv- und Orientierungslosigkeit könnten weitere Faktoren sein.

Was deutlich zunehme, sei verbale Gewalt etwa in Form von Cybermobbing, sagte Gewerkschafter Schneider. Aus seiner Sicht muss die Sozialarbeit an den Schulen ausgebaut werden. „Sozialarbeiter gibt es an vielen Schulen, aber nicht an allen. Das sollte Standard sein.“ Die Fachleute hätten eine andere Rolle als Lehrer, müssten Schüler zum Beispiel nicht benoten. Das schaffe ein anderes Verhältnis. Zudem brächten sie eine andere Expertise mit.

Das Thema Gewalt an der Schule und Prävention beschäftigt seit Jahren Politik, Polizei und Vereine. Im Internet finden sich zahlreiche Informationen mit Ansprechpartnern samt Rufnummern. Es gibt Handreichungen mit Tipps für Eltern und Lehrkräfte.

Lothar Wegner von der Aktion Jugendschutz Baden-Württemberg mahnte vor allem ein „kompetentes Konfliktmanagement“ an. An vielen Schulen liefen etwa Streitschlichtungsprogramme sehr gut, an manchen hapere es aber - auch weil die personellen Ressourcen fehlten, sagte er. Auf der anderen Seite müsse die Teilhabe der Schüler selbst etwa in Form eines Klassenrats gestärkt werden. Das sei gerade in Zeiten von Corona allerdings schwierig und komme daher häufig zu kurz.

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Erstellt:
24. November 2020, 12:29 Uhr

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