Porträt einer Gastfamilie für psychisch Kranke

Damit ihr Alltag Struktur bekommt und sie gleichzeitig mehr Selbstständigkeit ausleben können, kommen manche psychisch erkrankte Menschen im Rems-Murr-Kreis in Gastfamilien unter. Eine Familie aus Aspach berichtet von ihren Erfahrungen.

Am großen Esstisch wird im Gespräch der eigene Tag reflektiert (von links): Klient Herr E., Karin Mayländer-Friedrich, Tobias Schad, Hanne-Rose Schad und die drei Kinder Lene, Lotte und Lorenz. Foto: Alexander Becher

© Alexander Becher

Am großen Esstisch wird im Gespräch der eigene Tag reflektiert (von links): Klient Herr E., Karin Mayländer-Friedrich, Tobias Schad, Hanne-Rose Schad und die drei Kinder Lene, Lotte und Lorenz. Foto: Alexander Becher

Von Lorena Greppo

Rems-Murr. Bei Familie Schad in Aspach ist immer etwas los. „Hier ist es eigentlich nie ruhig“, sagt Familienvater Tobias Schad lachend. Er, seine Frau Hanne-Rose und die drei Kinder Lotte, Lene und Lorenz haben gerne Besuch. Und nicht nur das: Sie haben zwei dauerhafte Mitbewohner. Denn die Schads sind eine von aktuell 16 Gastfamilien im Rems-Murr-Kreis, die psychisch erkrankte Menschen bei sich aufnehmen. Im Moment wohnen im Haus der Familie noch Herr E. und Frau F. (beide möchten ihre Namen nicht in der Zeitung lesen). In der Regel, erklärt Karin Mayländer-Friedrich vom Hilfsverein für psychisch Kranke Rems-Murr, kommt nur eine Person pro Familie unter. Doch die Schads haben den Platz und die Erfahrung. „Meine Eltern haben damit angefangen. Ich bin also groß geworden damit, Menschen mit in die Familie zu bringen, die Unterstützung brauchen“, erklärt Hanne-Rose Schad. Als sie und ihr Mann dann 2011 das Haus der Oma renoviert haben und eingezogen sind, verging nur ein halbes Jahr, ehe der erste Klient einzog. Das war Herr E.

Er ist insofern ein ungewöhnlicher Klient als er nicht psychisch erkrankt, sondern durch andere gesundheitliche Faktoren eingeschränkt ist. Angestellt ist er in der Werkstatt für Behinderte. In eine Gastfamilie kam er, um einen geregelten Alltag zu haben, eine Tagesstruktur auch außerhalb der Arbeit. Ob ihm der Trubel in einer Familie mit drei Kindern nicht zu viel ist? Er winkt ab. „Die Kinder kennen mich von Anfang an, wir kommen gut miteinander aus.“ Es störe ihn auch nicht, wenn es mal lauter wird. „Kinder sollen zu hören sein“, findet Herr E. Am ersten Wochenende, das er bei Familie Schad verbracht hat, stand gleich eine Taufe an. „Ich war direkt drin in der Familie und habe mich von Anfang an sehr wohlgefühlt“, berichtet der gebürtige Rostocker. Schnell habe sich ein Vertrauensverhältnis entwickelt. Die gemeinsame morgendliche Fahrt nach Backnang und das Abendessen in großer Runde, in der auch der eigene Tag reflektiert wird, gehören nun zum Alltag bei Schads. „Man wächst zusammen“, sagt Hanne-Rose Schad.

Ein Beitrag für die Gesellschaft

Anfangs habe sie Sorge gehabt, dass die Mitbewohner häufig wechseln würden, räumt sie ein. Doch beide Klienten sind nun schon seit vielen Jahren im Hause. Ihre Motivation dafür, Fremde bei sich aufzunehmen, fasst sie ganz einfach zusammen: „Uns gehts gut und wir haben Möglichkeiten, die andere nicht haben. Wir wollen unseren Teil dazu beisteuern, dass auch sie es besser haben.“ Die Aspacherin hat Sozialpädagogik studiert und in einer Einrichtung für psychisch Kranke gearbeitet. Das ist jedoch keine Voraussetzung dafür, als Gastfamilie angenommen zu werden, betont Mayländer-Friedrich. Tobias Schad war bei der Idee auch mit an Bord. „Natürlich haben wir darüber diskutiert“, sagt er. „Das ist schließlich schon eine Hausnummer.“ Doch seine Frau habe aus ihrer Jugend von keinerlei schlechten Erfahrungen zu berichten gewusst, sodass er es wenigstens ausprobieren wollte. Er sieht das Engagement als Beitrag für die Gesellschaft. „Und die Kinder wachsen mit dem Wissen auf, dass es nicht selbstverständlich ist, was wir haben.“

Umgang findet auf Augenhöhe statt

Wichtig ist allen Beteiligten, dass der Umgang auf Augenhöhe stattfindet. „Man respektiert sich gegenseitig und achtet aufeinander“, führt Mayländer-Friedrich aus. Bei Schwierigkeiten gibt es einen runden Tisch, wo das besprochen wird. „Man löst Probleme zusammen.“ Das gilt nicht nur für die psychisch Erkrankten in ihren Gastfamilien, sondern auch für den Hilfsverein, der niemanden mit eventuell auftretenden Problemen alleinlasse. Regelmäßig finden Hausbesuche statt. Zudem sei rund um die Uhr jemand telefonisch erreichbar.

Je nach Klient sei unterschiedlich, welche Unterstützung nötig ist. Daher gebe es im Vorfeld ein ausgiebiges Kennenlernen, um zu schauen, ob die Familie zur entsprechenden Person passt. „Bei manchen geht es um Verselbstständigung. Bei anderen steht im Vordergrund, dass sie versorgt sind und so den Kopf frei haben. Das gibt ihnen die Sicherheit: Ihr müsst nicht alles allein wuppen.“ Wichtig sei eine Normalität im Alltag als Gerüst, an dem man sich entlanghangelt. Typische Klienten sind Personen, die etwa an Depressionen oder Schizophrenie erkrankt sind, bei denen die akute Krankheitsphase jedoch abgeklungen ist.

Ein Aha-Erlebnis: das erste gemeinsame Weihnachten mit der Gastfamilie

Wie wichtig so eine Stütze im Alltag sein kann, habe sich besonders in Coronazeiten gezeigt. Als nämlich die Werkstatt für Behinderte und vieles andere auch zu hatten, war es ein großer Vorteil für Menschen mit psychischer Erkrankung, dass sie rund um die Uhr zuverlässige Ansprechpersonen um sich hatten.

Für Herrn E. war ein Aha-Erlebnis das erste gemeinsame Weihnachten mit Familie Schad. „Man hat ihm angesehen, dass es ihm richtig gut geht und er sich wohl und integriert fühlt“, berichtet Tobias Schad unter Zustimmung seines Mitbewohners. Frau F. wiederum finde Freude daran, im Garten zu helfen. „Das ergibt sich alles.“ Hanne-Rose Schad ist froh, dass es von der Harmonie mit ihren Mitbewohnern gut zusammenpasst. Auch für Verwandte und Freunde sei deren Anwesenheit inzwischen völlig normal. Dass aber nicht alles auf Anhieb klappt, das wissen die Beteiligten auch zu berichten. Herr E. ist in seiner Freizeit gerne unterwegs, berichtet er. Er bespreche immer mit der Familie, wo er hingeht, „damit sich niemand Sorgen machen muss“, erklärt Mayländer-Friedrich. Weil ihm das anfangs nicht bewusst war, habe er dies einmal vergessen und die Familie in Aufruhr versetzt, als er nicht heimkam. „Wir haben in der Dunkelheit nach ihm gesucht“, berichtet Hanne-Rose Schad. Eine echte Schrecksekunde! Heute können zum Glück alle Beteiligten darüber lachen.

Der Hilfsverein sucht nach interessierten Gastgebern

Der Verein Der Hilfsverein für psychisch Kranke Rems-Murr ist seit 47 Jahren Leistungserbringer in der Unterstützung, Begleitung und Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen im Rems-Murr-Kreis. Der Verein wurde 1975 gegründet, hat 90 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und unterstützt mit seinen verschiedenen Diensten, Einrichtungen und Angeboten etwa 900 Personen.

Der Fachdienst Der besondere Fachdienst Betreutes Wohnen in Familien bietet psychisch erkrankten Menschen die Chance, integriert in einer Gastfamilie und deren Umfeld leben zu können. Es handelt sich dabei um Menschen, deren akute Krankheitsphase abgeklungen ist und die zur Bewältigung ihres Alltags noch Unterstützung und Assistenz benötigen.

Eingliederungshilfe Finanziert wird dieses Unterstützungsangebot über die Eingliederungshilfe nach SGB IX (Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen) vom Landratsamt des Rems-Murr- Kreises. Die Gastfamilien erhalten für ihre Aufwendungen ein monatliches Betreuungsentgelt sowie die Kosten für Unterkunft und Verpflegung.

Gastfamilien gesucht Um dieses inklusive Unterstützungsangebot weiteren psychisch erkrankten Menschen zu ermöglichen, sucht der Hilfsverein interessierte Familien vorrangig im Rems-Murr-Kreis. Auch Einzelpersonen oder Paare dürfen sich gerne melden. Voraussetzungen sind, dass für die Klienten ein eigenes Zimmer zur Verfügung steht, sowie Waschräume. Die Wohnverhältnisse werden geprüft, im Vorfeld finden Beratungsgespräche und Runden zum Kennenlernen statt.

Kontakt Karin Mayländer-Friedrich vom Hilfsverein für psychisch Kranke, Telefon: 07191/9333175, E-Mail: karin.maylaender-friedrich@hilfsverein-rems-murr.de, Webseite: www.hilfsverein-rems-murr.de

Zum Artikel

Erstellt:
5. August 2022, 11:30 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Lesen Sie jetzt!

Stadt & Kreis

Gesellinnen und Gesellen im Rems-Murr-Kreis werden ausgezeichnet

In dieser Woche hat die Lossprechungsfeier der Kreishandwerkerschaft Rems-Murr stattgefunden. In der Barbara-Künkelin-Halle in Schorndorf sind bei dieser Gelegenheit auch die Auszeichnungen an die besten Junghandwerkerinnen und Junghandwerker verliehen worden.

Stadt & Kreis

Das Bildhafte der Kinderkreuzwege spricht Kinder im Herzen an

Viele Kirchengemeinden im Raum Backnang organisieren Kinderkreuzwege und versuchen so, die Leidensgeschichte Jesu auf kindgerechte Art und Weise zu vermitteln. Der Schwerpunkt der Verkündigung liegt dabei nicht auf der grausamen Passion, sondern auf der frohen Osterbotschaft.

Maria Török ist eine von über 100 Pflegekräften im Staigacker. Sie kümmert sich liebevoll und gern um die Bewohner. Foto: Alexander Becher
Top

Stadt & Kreis

Personalnotstand setzt Pflegeheimen im Raum Backnang zu

Weil offene Stellen nur schwer besetzt werden können oder Pflegekräfte krankheitsbedingt ausfallen, kommt es in Pflegeeinrichtungen immer wieder zu Personalengpässen. Trotzdem muss die Versorgung weiterlaufen. Heime greifen deshalb auf Zeitarbeitsfirmen oder Springer zurück.