Praktischer als eine eigene Wohnung

Bezahlbarer Wohnraum für Leute mit schmalem Einkommen ist schwer zu finden. Viele entscheiden sich für das Hotel Mama.

Nicole Kronmüller absolviert ein duales Studium zum Bachelor of Laws in der Steuerverwaltung. Wohnen kann sie während dieser Zeit bei den Eltern. Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Nicole Kronmüller absolviert ein duales Studium zum Bachelor of Laws in der Steuerverwaltung. Wohnen kann sie während dieser Zeit bei den Eltern. Foto: A. Becher

Von Annette Hohnerlein

BACKNANG/ASPACH. Wer nach Beendigung der Schule noch bei den Eltern wohnen bleibt, tut das meist nicht aus Bequemlichkeit. In Zeiten knappen Wohnraums ist das eine kostengünstige Alternative, wenn Arbeitsplatz, Ausbildungs- oder Studienort in erreichbarer Nähe liegen. Wenn es gut läuft im Elternhaus, wenn genug Platz da und das Verhältnis zu den Eltern in Ordnung ist, wenn zudem der Weg zur Arbeit, zur Ausbildungsstelle oder zum Studienort nicht weit ist, dann lassen es viele junge Erwachsene nach der Schulzeit erst mal so weiterlaufen wie bisher. Denn bezahlbarer Wohnraum für Leute mit schmalem Einkommen ist schwer zu finden.

Im Wohnheim hätte Nicole Kronmüller keinen Platz bekommen.

Nicole Kronmüller steht kurz vor dem Abschluss ihres dualen Studiums zum Bachelor of Laws in der Steuerverwaltung. Und sie wohnt bei ihren Eltern in Backnang. Von dort aus kann sie zu Fuß zum örtlichen Finanzamt gehen, wo sie den praktischen Teil ihres Studiums absolviert. Für die Fahrt zur Hochschule für öffentliche Verwaltung und Finanzen in Ludwigsburg braucht sie mit Bus und S-Bahn rund eine Stunde. „Das ist gut machbar“, findet die 21-Jährige, „ich finde es nicht schlimm, zu pendeln.“ Eine Chance auf einen günstigen Platz im Wohnheim hätte sie sowieso nicht gehabt, erläutert die Studentin, darauf könne man sich nur dann Hoffnung machen, wenn man mindestens 100 Kilometer von der Hochschule entfernt wohnt. Dass es bequem ist, noch im Elternhaus zu leben, streitet sie gar nicht ab. Aber sie lässt sich nicht bedienen, sondern bringt sich immer wieder im Haushalt mit ein, indem sie zum Beispiel Einkäufe erledigt.

Die Mutter, Angelika Kronmüller, ist sich mit Nicole einig, was das Verhältnis zwischen Eltern und Tochter betrifft. „Da gibt es überhaupt keine Probleme“, bestätigen die beiden. Und Platz ist auch genug da. Die drei älteren Geschwister von Nicole sind schon vor Jahren ausgezogen, sie hat jetzt ein halbes Stockwerk inklusive eigenem Bad zur Verfügung. Und wenn Nicole irgendwann ihre eigenen vier Wände bezieht, fürchtet sich Angelika Kronmüller nicht vor dem Empty-Nest-Syndrom: „Das ist dann auch okay.“

So wie Nicole halten es viele junge Erwachsene in Deutschland. Das durchschnittliche Alter beim Auszug aus dem Elternhaus lag 2019 bei 23,7 Jahren, wie das Statistische Bundesamt in Wiesbaden Anfang August bekannt gab. Demnach lebten 28 Prozent der jungen Erwachsenen mit 25 Jahren noch im Haushalt der Eltern. Wobei sich die Zahlen je nach Geschlecht unterschiedlich darstellen. Während 34 Prozent der Söhne in diesem Alter in den elterlichen vier Wänden leben, haben die Töchter einen größeren Drang zur Selbstständigkeit: Nur 21 Prozent von ihnen wohnen mit 25 Jahren noch im Elternhaus. Beim Blick über die Grenzen wird ein deutliches Nord-Süd-Gefälle offenbar, wie die Statistiker beim Vergleich mit anderen EU-Ländern festgestellt haben. Schweden hat mit 17,8 Jahren das niedrigste durchschnittliche Auszugsalter, Kroatien mit 31,8 Jahren das höchste. Dabei spielen Faktoren wie Wohnungspreise, Jugendarbeitslosigkeit oder auch Unterschiede in der Mentalität eine Rolle. Mit Bequemlichkeit, wie das mit dem etwas abwertenden Begriff „Hotel Mama“ unterstellt wird, hat das meist nichts zu tun. Auch in Japan, wo sich der Begriff des „parasitären Singles“ für junge Erwachsene etabliert hat, die bis in die späten 20er- oder frühen 30er-Jahre hinein bei den Eltern wohnen, dürften wohl eher die Wohnungspreise in den Großstädten für das Phänomen verantwortlich sein.

Max Ritzl aus Backnang, der eine Ausbildung zum Verfahrensmechaniker für Kunststoff- und Kautschuktechnik in Schwaikheim absolviert, stellt fest: „In Backnang ist Wohnraum teuer. Das kann man allein mit einem Azubi-Gehalt nicht stemmen.“ Er wohnt mit Eltern und Großeltern unter einem Dach. Als seine ältere Schwester vor einem Jahr auszog, übernahm er ihr großes Zimmer im Dachgeschoss. „Dort habe ich auch ein eigenes Bad, das ist fast wie eine kleine Wohnung“, berichtet der 21-Jährige. Auch er packt regelmäßig daheim mit an, mäht den Rasen oder hängt eine Maschine Wäsche auf. Wohin es ihn verschlägt, wenn er in einem Jahr seine Ausbildung abgeschlossen hat, steht noch in den Sternen. „Ich hoffe, dass die Firma mich übernimmt, aber das ist wegen der Coronapandemie fraglich“, sagt Max. Auf jeden Fall möchte er in der Gegend bleiben und wird im Raum Backnang eine Stelle suchen. Und wenn er finanziell auf eigenen Füßen steht, rückt auch eine eigene Wohnung in greifbare Nähe.

Auch Sinan Kalafatci lebt als jüngster von drei Geschwistern als Einziger noch in seinem Elternhaus in Kleinaspach. Er studiert im fünften Semester Betriebswirtschaft und Unternehmensführung an der Hochschule Heilbronn. „Ich hätte eine Wohngemeinschaft finden können“, sagt der 22-Jährige, „aber das lohnt sich für mich nicht.“ Vor allem nicht im vergangenen Semester, das coronabedingt zum größten Teil online stattfand. Zudem verbringe er seine Freizeit ausschließlich in Backnang und Stuttgart, Heilbronn sei für ihn nur Studienort. Das Zusammenwohnen mit den Eltern funktioniere gut, und natürlich sei es bequem, wenn man sich nicht ums Kochen oder die Wäsche kümmern muss, gibt Sinan zu. Aber auch er legt ab und zu mit Hand an, holt ein paar Kisten Sprudel oder schwingt den Staubsauger. Bis zum Ende des Studiums in anderthalb Jahren wird er noch zu Hause wohnen bleiben. Je nachdem, wo er einen Job findet, wird dann auch ein Umzug anstehen.

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Erstellt:
10. September 2020, 06:00 Uhr

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