Kinder in Gaza
Psychologin über das Trauma der Kinder: „Sie sterben einfach leise vor sich hin“
Kinder leiden massiv unter dem Krieg in Gaza. Psychologin Katrin Glatz Brubakk erzählt, wie sie versucht, das zu heilen, was kaum heilbar scheint.

© Jehad Alshrafi/AP/dpa
Palästinenserinnen warten mit ihren Kindern auf medizinische Versorgung in einer überfüllten Klinik in der Stadt Gaza (Archivfoto).
Von Gülay Alparslan
Adam ist gerade einmal fünf Jahre alt, als er mitansehen muss, wie sein Vater stirbt. Die beiden befinden sich in einer sogenannten humanitären Zone in Gaza – einem Ort, der als sicher gilt –, als israelische Bomben einschlagen. Vater und Sohn werden schwer verletzt ins Nasser-Krankenhaus gebracht und dort, wie viele andere, auf dem Boden abgelegt. Kurz darauf stirbt der Vater – vor den Augen des Jungen.
Seitdem spricht Adam mit niemandem. Er liegt apathisch da und starrt ins Leere. Auch Adam wurde schwer verletzt: Ein Bein musste amputiert werden, das andere ist stark beschädigt.
In dieser Situation trifft Katrin Glatz Brubakk den Jungen zum ersten Mal. Die norwegisch-deutsche Kinderpsychologin arbeitet seit zehn Jahren mit „Ärzte ohne Grenzen“ in Krisengebieten. Doch was sie in Gaza erlebt, übersteigt alles, was sie bisher gesehen hat.
„Er ist zwar am Leben, aber er lebt nicht wirklich“
„Er schlief um die 20 Stunden am Tag, aß kaum etwas und wollte nichts mehr von der Welt wissen – und keiner durfte seinen Vater erwähnen“, erinnert sich die Psychologin. Das bereitet ihr große Sorgen: „Er ist zwar am Leben, aber er lebt nicht wirklich. Er lernt nichts und entwickelt sich nicht weiter.“ Katrin Glatz Brubakk verbringt viel Zeit mit Adams Mutter. Gemeinsam sprechen sie über den Verlust ihres Mannes, aber auch darüber, dass Adam erleben muss, dass man über solche Verluste sprechen kann, ohne dass die Welt noch mehr zerbricht.
In dieser Zeit besucht Glatz Brubakk Adam täglich in seinem Zimmer. Lange Zeit will er nicht mit ihr reden, nicht, dass sie da ist. Doch eines Tages sagt er zu seiner Mutter: „Sag der Dame, sie soll rausgehen – ich mag sie nicht.“ Die Psychologin freut sich sehr darüber, denn es ist ein Hoffnungsschimmer: „Das heißt, es ist ihm nicht länger alles egal. Er reagiert auf das, was um ihn herum passiert.“
Schließlich schafft sie es sogar, dass Adam sie an einem Tag – wenn auch nur für einen kurzen Blick – anschaut. „Ich sagte zu ihm ‚oh, du hast aber schöne braune Augen. Ich habe ganz blaue. Hast du die schon mal gesehen?“ Neugierig blickt Adam kurz zurück – und das ist der Anfang, ihn langsam zurück ins Leben zu holen.
Ein erster Schritt zurück ins Leben
Mit der Zeit gelingt es Katrin Glatz Brubakk, Adam spielerisch zu erreichen. „Spielen ist nicht nur für die kindliche Entwicklung wichtig, sondern schenkt Kindern auch eine Pause vom Stress. Wenn sie lachen, beruhigt sich ihr Nervensystem. Das hilft, zu verhindern, dass chronischer Stress entsteht.“
Langsam beginnt Adam wieder zu spielen und kann ein paar kleine Pausen vom Trauma einlegen. Nach und nach sprechen sie auch über seinen Vater. Anfangs isst Adam kaum, und schon gar nichts, was sein Vater mochte. Doch irgendwann kehren die guten Erinnerungen zurück.
Eine große Herausforderung ist es, Adam aus seinem Zimmer herauszuholen. Er schämt sich, dass er ein Bein verloren hat, und hat Angst vor der Welt draußen. Doch kurz vor Glatz-Brubakks Abreise aus Gaza stolpert sie an einem Tag beinahe über einen Rollstuhl im Gang – und erkennt Adam darin. Endlich hat er sich getraut, das Zimmer zu verlassen.
Der Moment, in dem Adam wieder lacht
Wenig später sitzen die beiden in einem kleinen Innenhof des Krankenhauses und essen ein improvisiertes „Eis“: zerstoßene Eiswürfel, gefärbt mit knallrotem Sirup. Dieser färbt Adams Lippen so stark, dass es aussieht, als trüge er Lippenstift. „Du siehst zum Lachen aus“, sagt Glatz Brubakk. Adam schaut sie an, zögert kurz – und antwortet dann: „Du aber auch.“ Dann lacht er. Zum ersten Mal seit sechs Monaten. Ein echtes, unbeschwertes Kinderlachen.
Natürlich könne dieses Lachen Adams große Sorge nicht wegnehmen – sein Vater ist tot, der Krieg tobt weiter und sein Zuhause ist zerstört. Doch für einen Moment ist Adam wieder ein Kind.
So wie Adam geht es den meisten Kindern in Gaza: Sie tragen schwere seelische Wunden davon. „Kinder reagieren auf extreme Traumata meist auf zwei Arten”, weiß die Psychologin. Die einen, wie Adam, ziehen sich vollkommen zurück, hören auf zu sprechen, essen kaum noch und vermeiden jegliche Interaktion. Manche sind so stark traumatisiert, dass sie nicht mehr kauen können und mit Babynahrung gefüttert werden müssen. Die anderen reagieren mit starker Unruhe, Angst oder Aggression. Sie reißen sich die Haare aus, beißen sich selbst oder schlagen den Kopf gegen die Wand. Sie schreien, sie haben Alpträume, sie können nicht ruhig sitzen.
Kinder in Gaza: Trauma, Rückzug und zerstörte Kindheiten
Vor allem die stillen Kinder bereiten der Psychologin große Sorgen. Ihr Rückzug ist ein Schutzmechanismus gegen eine als gefährlich erlebte Welt. Dadurch bleibt ihre Entwicklung stehen, denn Kinder lernen durch Aktivität, Spielen und soziale Kontakte. Wenn sie sich zurückziehen, stockt nicht nur ihr Lernen, sondern auch ihre Gehirnentwicklung. Glatz Brubakk nennt das „kognitive Kriegsschäden“, denn im chronischen Angstzustand können Kinder nicht wachsen.
Die von UNICEF und anderen Organisationen gelieferten Zahlen zeigen: Seit Oktober 2023 wurden in Gaza mehr als 17.000 Kinder getötet und über 33.000 verletzt. Im Durchschnitt sterben dort täglich 28 Kinder allein durch Gewalt, Unterernährung oder fehlende medizinische Hilfe.
Was sie aus Gaza für immer mitnehmen werde, sind die extremen Angstschreie panischer Kinder. „Das habe ich in diesem Ausmaß nirgendwo sonst erlebt“, sagt die Psychologin. Die Kinder seien so verängstigt und traumatisiert, dass schon ein kleines Geräusch oder eine unerwartete Bewegung ausreichten, um sie in Panik zu versetzen. Dann schreien sie – laut und intensiv. Es sei schwer, in solchen Momenten überhaupt zu ihnen durchzudringen. „Diese Schreie berühren mich jedes Mal tief, trotz meiner ganzen Professionalität“, sagt Katrin Glatz Brubakk. „Es ist, als wäre die ganze Angst Gazas in dieser einen Kinderstimme gesammelt.“
Kinder in Gaza sterben leise
Was ihr beim Ansehen aktueller Videos aus Gaza jedoch besonders auffällt: Die Kinder schreien nicht mehr. Sie sind so unterernährt, dass sie nicht mehr die Kraft dazu haben. „Sie sterben einfach leise vor sich hin, weil sie so ausgehungert sind.“
Wenn Kinder hungern, stockt auch ihre Gehirnentwicklung, weiß die Psychologin. Selbst wenn sie überleben und wieder Nahrung bekommen, werden viele von ihnen lebenslange, kognitive und entwicklungsbedingte Schäden davontragen – Schäden, die sie höchstwahrscheinlich nie wieder aufholen können.
Je länger der Krieg andauert und je mehr Traumata die Kinder erleiden, desto schwieriger und langwieriger werde es, ihnen zu helfen. Ihre seelischen Verletzungen sitzen dann tiefer und eine umfassendere therapeutische Begleitung über einen viel längeren Zeitraum sei erforderlich. „Das Allerwichtigste ist, dass der Krieg stoppt“, sagt Katrin Glatz Brubbak. Nur dann könne Heilung beginnen.
Appell an die Menschlichkeit
Nach ihrer Rückkehr nach Norwegen hatte sie noch eine Weile Kontakt zu Adam und seiner Mutter. Mittlerweile ist dieser jedoch verloren gegangen. Sie wisse nicht, ob es daran liegt, dass sie kein Internet haben, ob sie ihr Telefon verloren haben – Telefone können in Gaza meist nicht ersetzt werden, weil sie auf dem Markt nicht erhältlich sind – oder ob sie tot sind. „Da mache ich mir schon viele Gedanken.“
Wenn sie auf ihre Zeit in Gaza zurückblickt, bleibt vor allem eines haften: Die Lage ist so ernst, dass es nicht ausreicht, auf Politiker zu warten. „Diplomatie und Rücksichtnahmen – all das hat seine Grenzen“. Die Geschichte habe gezeigt: Große Veränderungen kommen oft zustande, weil Menschen nicht schweigen, sondern handeln. Deswegen ihr Appell: „Bleibt so human, dass ihr nicht stillsitzen könnt.“