Richter sieht Angeklagten als „tickende Zeitbombe“

Das Gericht veranlasst Unterbringung des 65-Jährigen in geschlossener Psychiatrie, weil der Mann weder einsichts- noch steuerungsfähig sei.

Vor dem Stuttgarter Landesgericht hatte das Urteil gegen den 65-jährigen Angeklagten keinen Bestand. Archivfoto: A. Becher

© Alexander Becher

Vor dem Stuttgarter Landesgericht hatte das Urteil gegen den 65-jährigen Angeklagten keinen Bestand. Archivfoto: A. Becher

Von Heike Rommel

Backnang/Stuttgart. Das Urteil über den Backnanger, der zwei Schüler vom Fahrrad gestoßen und sich mit Polizeibeamten angelegt hat (wir berichteten), ist vor dem Stuttgarter Landgericht gefallen: Der 65-jährige Deutsche wird in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen – und das kann lebenslänglich sein, falls keine Besserung eintritt. Weil der Mann weder einsichts- noch steuerungsfähig ist, also so krank, dass ihm gar keine Schuld gegeben werden kann, musste er im Übrigen von allen Taten freigesprochen werden.

Der Backnanger ist seit einem Arbeitsunfall, bei dem ihm im Jahr 1980 ein Masten auf den Kopf fiel, hirnorganisch so krank, dass er die Folgen nicht abschätzen kann, wenn er auf andere Menschen losgeht. Das erklärte der Gerichtspsychiater, Professor Hermann Ebel, in seinem Gutachten. Er kam zu der Überzeugung, dass den damals zehn- und elfjährigen Schülern, die der Backnanger am 30. Oktober 2019 von ihren Fahrrädern gestoßen hat, viel Schlimmeres hätte passieren können als Rückenschmerzen. Ohne Unterbringung in der Psychiatrie, so die Einschätzung des Sachverständigen, seien von dem Rentner schwerere Straftaten zu befürchten. Der vorsitzende Richter Reiner Skujat bezeichnete den Backnanger bei der Urteilsverkündung als „tickende Zeitbombe“ und wollte vom Gutachter wissen, ob Zeiträume, in denen dieser nicht auffällig ist, Zufall sind.

Der Psychiater bejahte das, zumal viele Menschen wohl einen Bogen um den Führerscheinlosen gemacht hätten, der viel zu Fuß und mit dem Fahrrad unternimmt. Alleine eine Uniform reiche schon aus, um den Backnanger, der keine Polizisten leiden könne, in Erregung zu versetzen. „Er hat sich ja auch für Waffen interessiert und hegt gewisse politische Gedanken“, kam der Richter noch einmal auf fremdenfeindliche und rechtsextreme Äußerungen zu sprechen. Auch in diesem Punkt bejahte der Gutachter die Gefährlichkeit des Mannes für andere.

Nach seiner Verurteilung durch die siebte Strafkammer muss er möglicherweise lebenslang in der geschlossenen Psychiatrie bleiben. Was passieren kann, wenn der Kranke seine Medikamente nicht einnimmt, zeigte sich im Zentrum für Psychiatrie Weissenau bei Ravensburg, wo er schon vor dem Prozess vorläufig untergebracht war. Er demolierte sein Zimmer und gab auch in der Isolationszelle keine Ruhe.

Gestützt auf einen richterlichen Beschluss ergriff die Klinik medikamentöse Zwangsmaßnahmen, nachdem sich das Personal nicht mehr in die Zelle trauen konnte, ohne sich selbst zu gefährden. Der Gerichtspsychiater beschrieb den Patienten als einen „unbeherrschten, enthemmten, aufbrausenden Typ“, der schnell die Beherrschung verliere. Obgleich der gefährliche Eingriff in den Straßenverkehr mit den Stößen vom Fahrrad, Körperverletzungen an einem der Schüler und einem Polizisten bei der Festnahme, zahlreiche Beleidigungen von Polizeibeamten sowie der Missbrauch eines Notrufs, mit dem der 65-Jährige letztere auflaufen ließ, keine schweren Straftaten waren, blieb der Kammer aus der Sicht von Richter Skujat nichts anderes übrig als die Zwangseinweisung. Dem Backnanger Mann wurde eine katastrophale Prognose gestellt.

Vor der Urteilsverkündung hatte er das letzte Wort und sagte: „Ich fühle mich total unschuldig in allen Fällen. Ich wurde beleidigt, belästigt und provoziert.“ Letzteres verortete der Richter bei der Begründung des Urteils unter „Eingebungen“. Der Mann habe gedacht, die Schüler seien von einer Person gegen ihn aufgehetzt worden, mit der er Probleme hatte. „Wenn Sie Ihre Medikamente nehmen, kann es sein, dass Sie wieder aus der Psychiatrie herauskommen“, erklärte der Richter dem Backnanger. „Gewisse Dinge werden Sie immer anders sehen als der normale Bürger“, fügte er hinzu, „weil Sie halt krank sind.“

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Erstellt:
12. November 2021, 06:00 Uhr

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