Rinder in Weissach beschlagnahmt

Mit Unterstützung der Polizei hat das Veterinäramt in Unterweissach rund 90 Rinder beschlagnahmt und abtransportiert. Die Besitzerin und ihre Tochter sprechen von Willkür, Veterinäramtsleiter Thomas Pfisterer von einer notwendigen Amtshandlung.

Eines von insgesamt rund 90 Tieren, die am Dienstag verladen und abtransportiert wurden.Foto: J. Fiedler

© Jörg Fiedler

Eines von insgesamt rund 90 Tieren, die am Dienstag verladen und abtransportiert wurden.Foto: J. Fiedler

Von Melanie Maier

WEISSACH IM TAL. Am Telefon ist Jutta Pretzel aufgelöst: Ihre Rinder kommen weg. Das Veterinäramt und die Polizei seien da, lassen alle Kühe, Bullen und Kälber abtransportieren. Zwischen 80 und 90 Tiere standen in Pretzels Stall am Rand von Unterweissach. Am Dienstag gegen 15.30 Uhr befindet sich ein Großteil der Tiere schon im Tiertransporter, der Rest wird noch hineingetrieben.

„Schauen Sie sich die Viecher genau an: Sehen die für Sie krank aus?“, fragt Pretzel neben dem Stalltor. Die 48-Jährige kann die Tränen nur schwer zurückhalten. Auch wenn die Rinder nicht ihr gehören, sondern ihrer Mutter Anneliese Pretzel. Und das ist auch schon das erste Problem in dieser etwas verstrickten Angelegenheit zwischen dem Veterinäramt und den zwei Weissacher Bäuerinnen.

2019 bekam Jutta Pretzel ein Rinderhaltungsverbot. Trotzdem kümmerte sie sich weiter mit ihrer Mutter um die Tiere. Alleine hätte die 69-jährige Anneliese Pretzel das wohl nicht geschafft. Die Folge: Am 15. Dezember 2020 wurde auch ihr ein Rinderhaltungsverbot erteilt. Nun, fast zwei Monate später, werden die Tiere beschlagnahmt. „Rücksichtslose Willkür“, sagt Anneliese Pretzel dazu und fragt: „Ist es wirklich notwendig, dass sich die Polizei auf unserem Hof aufbaut, wie wenn wir Schwerverbrecher wären?“

Er entspreche den Vorkenntnissen mit den Tierhalterinnen, rechtfertigt Thomas Pfisterer den Einsatz der Polizisten. Auf dem Hof seien Amtspersonen bereits beleidigt und bedroht worden, führt der Leiter des Backnanger Veterinäramts aus. Für Pfisterer ist der Fall eindeutig: Liegt ein Haltungsverbot vor, dürfen die Tiere nicht mehr auf dem Hof gehalten werden. Der Abtransport ist für ihn daher eine notwendige Amtshandlung.

Dass auf ihrem Hof nicht alles so war, wie vom Amt gefordert, das wusste auch Jutta Pretzel. „Wir haben vielleicht nicht alles renoviert, was wir renovieren sollten“, sagt sie. „Aber wir haben uns bemüht, die Tiere ordentlich zu halten.“

Die Bemängelungen des Veterinäramts waren zahlreich: Ohrmarken fehlten, die Tränken funktionierten zeitweise nicht, der Boden hatte teils zu breite Spalten, Rinder waren ausgerissen, koteten ins Futter. Kurzum: Die Tiere wurden nicht tierwohlgerecht gehalten. Und das über Monate hinweg. „Wir haben viele Chancen gewährt, die Zustände zu ändern, aber das ist nicht passiert“, sagt Pfisterer.

„Es ist immer eine Abwägung: Wann greift man ein?“

„Wir machen es uns nicht leicht mit einer solchen Entscheidung“, sagt auch Gerd Holzwarth. Er leitet das Dezernat 4 im Landratsamt, zu dem das Veterinäramt gehört. „Die Tierhalter sind uns nicht egal.“ Dem Einsatz seien mehrere Treffen und auch konkrete Vorschläge vorangegangen, wie man den Stall hätte umbauen können, sodass eine Haltung weiterhin möglich gewesen wäre. „Es ist immer eine Abwägung: Wann greift man ein?“, sagt er. Im konkreten Fall seien alle Möglichkeiten ausgeschöpft worden.

Es kommt nicht oft vor, dass Nutztiere ihren Besitzern weggenommen werden. In den vergangenen zehn Jahren wurden nur sieben Verbote zum Halten und Betreuen von Rindern ausgesprochen, teilt das Landratsamt Rems-Murr-Kreis mit. Fünfmal haben die Halter ihre Bestände freiwillig aufgegeben, zweimal kam es zur behördlichen Wegnahme: 2020 und am vergangenen Dienstag.

In den Monaten zuvor hatten Jutta und Anneliese Pretzel versucht, die Auflagen des Veterinäramts zu erfüllen. Sie ließen Wasserleitungen und die Aufstallung reparieren, verkauften Rinder – in der Hoffnung, einen kleineren Betrieb weiterzuführen. Ihre Familie habe immer Rinder gehabt, sagt Anneliese Pretzel.

Im Dezember verkaufte sie zehn Tiere, vor Kurzem noch einmal drei oder vier. Da manche Kühe gekalbt hätten, seien wieder ein paar Tiere dazugekommen. Ein weiterer Grund dafür, dass es nicht so schnell ging mit dem Abbau des Bestands: Die Preise, die momentan für Rinder bezahlt werden, sind extrem niedrig. „Eine Bekannte von mir hat für ein fünfeinhalb Wochen altes Bullenkalb 20 Euro bekommen“, sagt Pretzel. „Da füttere ich die Tiere lieber selbst hoch und bringe sie zum Schlachter.“

Es sei ihnen schon lange angedroht worden, die Tiere wegzunehmen, sagt Jutta Pretzel. Immer wieder erhielten sie und ihre Mutter Briefe vom Amt. Irgendwann ließen sie sie einfach ungeöffnet liegen. „Es waren so viele. Wir haben nicht mehr drübergesehen“, sagt Pretzel.

Dass die Bäuerinnen mit der Situation überfordert waren, meint auch Kreisrat Jürgen Hestler (SPD). Er bemüht sich seit mehr als einem Jahr, eine Lösung zwischen Jutta und Anneliese Pretzel und dem Veterinäramt zu finden. Auch er findet die Wegnahme unverhältnismäßig. „Klar, das ist ein alter Hof, kein Fernsehhof“, sagt er. Die Pretzels hätten aber versucht, wo es geht zu reparieren. Dass das Veterinäramt im Recht sei, stellt er nicht in Frage. Er kritisiert jedoch, dass nicht ausreichend geholfen wurde, die Vorgaben umzusetzen, Missstände zu beheben.

Sie hätten sich einen Anwalt nehmen sollen, sagt Jutta Pretzel, „aber dafür hatten wir kein Geld.“ Wie es weitergehen soll, weiß sie noch nicht. Bis zuletzt hatte sie gehofft, dass man eine Lösung finden würde, zusammen mit dem Amt. Doch nun werden die beschlagnahmten Rinder vom Landratsamt veräußert. Den Erlös erhält, nach Abzug der Kosten, Anneliese Pretzel. Falls sichergestellt wäre, dass alle Vorlagen auf ihrem Hof eingehalten werden, könnte sie in Zukunft auch wieder Rinder halten.

Kommentar
Tierwohl geht vor

Von Melanie Maier

Keine Frage: Es ist unglaublich bitter mitanzusehen, wie zwei Bäuerinnen ihre Rinder verlieren. Die Tiere, um die sie sich tagein, tagaus gekümmert haben. Die ihr Einkommen waren, aber auch die Art von Leben prägten, für das sie sich entschieden haben.

In einer perfekten Welt wäre den zwei Bäuerinnen vom Veterinäramt geholfen worden, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die Rinder tierwohlgerecht zu halten. Oder noch besser: Weniger Rinder tierwohlgerecht zu halten. Denn 90 Tiere dieser Größenordnung sind für zwei Personen vermutlich meistens zu viel Arbeit.

In der harschen Realität ist es nun aber so, dass das Veterinäramt, wie jedes Amt, nur begrenzte Kapazitäten hat. Und wenn nach mehrfachen Anläufen von Amtsseite die Situation der Tiere nicht verbessert wird – egal, aus welchem Grund – dann führt, rein rechtlich, kein Weg an einem Haltungsverbot und einem Abtransport vorbei. Ein Vorwurf an das Veterinäramt wäre deshalb fehlplatziert. Am Ende geht das Tierwohl vor.

m.maier@bkz.de

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Erstellt:
11. Februar 2021, 06:00 Uhr

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