S21-Gegner sind gegen Wohnbauprojekt
Das Bebauungsplanverfahren für das Rosensteinviertel soll gestoppt werden, um die Leistungsfähigkeit des Tiefbahnhofs zu optimieren. Das ginge zu Lasten des Wohnungsbaus.

© Horst Rudel
Schon 2007 wurden Unterschriften für einen Bürgerentscheid gesammelt, um den Tiefbahnhof zu verhindern.
Von Jörg Nauke
Stuttgart - Für die Stuttgarter Stadtbevölkerung ist es seit 2007 nicht außergewöhnlich, aufgefordert zu werden, Unterschriften für Bürgerbegehren zu leisten, um Stuttgart 21 zu be- oder verhindern. 67 000 Wahlberechtigte mit deutscher Staatsbürgerschaft oder der eines anderen EU-Landes unterstützten vor 18 Jahren die Forderung mit voller Überzeugung. In Erinnerung bleibt neben der Ablehnung durch den Gemeinderat die Weigerung des damaligen OB Wolfgang Schuster (CDU), die Listen entgegenzunehmen. In den Folgejahren gab es weitere – allesamt gescheiterte – Versuche, Stuttgart 21 zu beerdigen.
Kurz vor der für Ende nächsten Jahres angekündigten Teilinbetriebnahme des Tiefbahnhofs erfolgt nun ein weiterer Versuch mit der Parole: „Mehr Bahnhof – mehr Zukunft“. Getragen wird er vom Bund für Umwelt und Naturschutz, dem Verkehrsclub Deutschland, dem Klima- und Umweltbündnis, dem Aktionsbündnis gegen S 21, der Fraktionsgemeinschaft Die Linke-SÖS-Plus sowie dem Deutschen Gewerkschaftsbund und Verdi.
Bebauungsplan soll kassiert werden
Ziel ist, den am 15. Juli von einer Ratsmehrheit gefassten Aufstellungsbeschluss für den Bebauungsplan Rosensteinviertel einzukassieren. Dabei handelt es sich bei dem Quartier laut OB Frank Nopper (CDU) um „eines der größten innerstädtischen Wohnungsbauprojekte in Deutschland“. Das „A2“ genannte Areal erstreckt sich zwischen Hauptbahnhof und Wolframstraße. Geplant ist auf den heutigen Gleisanlagen laut Nopper „ein nachhaltiges Modellquartier mit großer Nutzungsvielfalt, attraktiven öffentlichen Räumen, identitätsstiftenden Orten, eindrucksvollen kulturellen Angeboten, einer wegweisenden, international ausstrahlenden Architektur und Tausenden von Wohnungen“. Die Initiatoren sind zuversichtlich, weil sich das Bürgerbegehren nicht gegen Finanzierungs- und Vertragsvereinbarungen aus früheren Zeiten richtet, sondern gegen den kürzlich aufgestellten Bebauungsplan für das Teilgebiet.
Eine Mitsprache der Bürger im Bauleitplanverfahren ist möglich, weil es nur den einleitenden Beschluss betrifft. Auch das Hemmnis, einen Kostendeckungsvorschlag unterbreiten zu müssen, besteht nicht. Die Initiatoren sagen, es gehe ihnen nicht mehr darum, Stuttgart 21 zu verhindern. Sie strebten lediglich dessen Optimierung an, indem die oberirdischen Gleise so lange erhalten bleiben, bis die Leistungsfähigkeit des Milliardenprojekts im Betrieb nachgewiesen sei. Weil auch der Anschluss der Gäubahn an den Hauptbahnhof gefordert wird, könnten die Bahnanlagen allerdings nicht vor 2033 aufgegeben werden.
OB Nopper kritisiert, dass bei einem erfolgreichen Bürgerbegehren „eine Bebauung der Flächen verhindert, nicht jedoch der Weiterbetrieb des Kopfbahnhofs erwirkt werden“ könnte. Über die verkehrliche Nutzung entscheide allein die Deutsche Bahn. Es drohe eine Brachfläche.
Gefahr für Frischluftproduktion
Im Werbeprospekt für das Bürgerbegehren, das 20 000 Unterschriften von Stuttgarter Wahlberechtigten benötigt, sind sechs eisenbahntechnische Gründe aufgeführt. Nur in einem Punkt wird die dort geplante Bebauung thematisiert. „Mehr Bahnhof – mehr Frischluft“ heißt es. Verhindere man die Bebauung, rette man damit das Stadtklima. Die Gleisanlagen sorgen im überhitzten Talkessel nachts für Abkühlung. Dort entsteht nicht nur Kaltluft, auch fließt Stuttgarts wichtigster Kaltluftstrom über die Schotterfläche, was vor allem die Cannstatter Bürger zu schätzen wissen. Im Aufstellungsbeschluss ist von „erheblich nachteiligen thermischen Wirkungen“ die Rede. Würde so hoch wie geplant auch gebaut, reduzierte sich das Kaltluftvolumen um 85 bis 90 Prozent.
Dem steht der nötige Wohnungsbau entgegen. Für die Gleisfläche hat die Stadt bereits 2001 mehr als 450 Millionen Euro bezahlt und auf viele Millionen Euro Strafzinsen verzichtet. Bis zu 1600 Einheiten könnten entstehen, mindestens die Hälfte soll in die Kategorie „bezahlbarer Wohnraum“ fallen. Für Clarissa Seitz vom BUND sind das lediglich Visionen. Der Bebauungsplan sei bis dahin veraltet und längst seien bis Mitte der 30-er Jahre innovativere und klimafreundlichere Lösungen gefunden. Die Stadtverwaltung baue nun unnötigen Handlungsdruck auf, betonen die Initiatoren.
Noppers Warnung vor einer Brache nimmt Hannes Rockenbauch vom Linksbündnis nicht ernst: „Der OB erliegt der falschen Annahme, dass auf den Flächen in absehbarer Zeit keine Züge mehr fahren.“ Und immer wieder verbreite das Stadtoberhaupt „das Märchen von den bezahlbaren Wohnungen“. Angesichts der gigantischen Entwicklungskosten und der Finanzlage der Stadt werde auf dem A 2-Areal keine einzige bezahlbare Wohnung entstehen. Er verweist auf die Alternativen EnBW- Areal am Stöckach (800 Wohnungen), das Eiermann-Gelände in Vaihingen (1400). Die größte Brache in dieser Stadt seien aber die mehr als 11 000 leer stehenden Wohnungen und dazu ein für eine Umnutzung verfügbarer Büroleerstand von fast 500 000 Quadratmetern.
Clarissa Seitz, die für den BUND das Bürgerbegehren unterstützt, betont, man sei für die Schaffung bezahlbaren Wohnraums auf der Gleisfläche – aber erst, wenn der Nachweis erbracht sei, dass Stuttgart 21 ohne die heutigen Gleise zuverlässig funktioniere.
Schon 1000 Listen ausgegeben
Die nötigen Unterschriften binnen drei Monaten bis zum 15. Oktober zu sammeln, gilt als ambitioniert. Laut Bündnis wurden bereits 1000 Listen (auf die je zehn Namen samt Adressen passen) im Rathaus abgeholt. Liegen diese Unterschriften vor, prüft der Gemeinderat lediglich die Zulässigkeit – es ist keine Gewissensentscheidung. Der Bürgerentscheid würde innerhalb von vier Monaten als Abstimmung durchgeführt – es sei denn, der Rat übernimmt die Forderung und hebt den Auslegungsbeschluss auf. Kommt es zum Bürgerentscheid, wäre die Frage bei einer Mehrheit der Stimmen im Sinne der Initiatoren beantwortet, wobei diese Mehrheit mindestens 20 Prozent der Stimmberechtigten betragen muss. Ist dies nicht der Fall, entscheidet der Gemeinderat, wobei davon auszugehen ist, dass er das Bebauungsplanverfahren weiterführt.
Bürgerbegehren gegen S21
Nicht zulässig 2007 wurden mehr als ausreichend Unterschriften gegen das damals noch in den Kinderschuhen steckende Projekt S 21 gesammelt. Damals wurden fünf Fragen zum Projektausstieg und zu den Verträgen gestellt und gekoppelt. Eine unzulässige Frage führte zur Unzulässigkeit des gesamten Bürgerbegehrens.
Ausstieg 2011 hatte das Aktionsbündnis und Juristen OB Wolfgang Schuster (CDU) mehr als 35 600 Unterschriften übergeben, um die Mitgliedschaft im Projekt förmlich zu beenden. Der Gemeinderat lehnte einen Bürgerentscheid mit dem Argument ab, es würde ein rechtswidriges Ziel verfolgt.
Storno 2015 wurde erneut der Projektausstieg mit dem Verweis auf eine „grundlegend neue Lage“ gefordert (Storno 21). Es ging um die Kostenexplosion. Wieder wurde das Ziel als rechtswidrig eingestuft. Ein Bürgerentscheid wegen des angeblichen Leistungsrückbaus fand ebenfalls keine Mehrheit.