Schon bis Mai so viele Flüchtlinge wie 2017

Die Versorgung von Asylbewerbern wird durch den Ukrainekrieg erneut zu einer großen Herausforderung. In Backnang haben im laufenden Jahr bereits 240 Menschen Zuflucht gefunden. Der Großteil der Ukraineflüchtlinge kann bislang noch privat Unterkunft finden.

Ukrainische Flüchtlinge in der Wohngruppe Aspacher Straße. Tetiana Radchenko, Olha Srubkovska, Viktoria Tarhachova, Oleksandr Srubkovskyi, Iana Tokarenko und Ryta Konstantinova (von links) bilden eher die Ausnahme, die meisten sind privat untergebracht. Foto: Tobias Sellmaier

© Tobias Sellmaier

Ukrainische Flüchtlinge in der Wohngruppe Aspacher Straße. Tetiana Radchenko, Olha Srubkovska, Viktoria Tarhachova, Oleksandr Srubkovskyi, Iana Tokarenko und Ryta Konstantinova (von links) bilden eher die Ausnahme, die meisten sind privat untergebracht. Foto: Tobias Sellmaier

Von Matthias Nothstein

Backnang. Aktuell haben 239 Menschen aus der Ukraine Zuflucht in Backnang gefunden. Die meisten davon sind privat untergekommen. Zum Glück, denn gleichzeitig steigt auch die Zuweisung von Asylbewerbern aus anderen Ländern stark an. Wenn beide Entwicklungen andauern, steht Backnang wie andere Kommunen auch vor einer riesigen Herausforderung, zumal der Krieg in der Ukraine erst vor drei Monaten von Putin begonnen wurde und vermutlich noch lange dauern kann. Die Stadtverwaltung gab daher in der jüngsten Sitzung des Gemeinderats einen Sachstandsbericht, den Oberbürgermeister Maximilian Friedrich mit einem Vergleich einleitete: „Es haben bereits 240 Personen in Backnang Zuflucht gefunden. Zum Vergleich, wir haben jetzt Mitte Mai bereits Zahlen erreicht, die gar nicht mehr so weit entfernt sind von jenen aus der Hochphase der Flüchtlingsbewegungen 2015 und 2016.“

Friedrich betonte, dass die Versorgung und Betreuung dieser Flüchtlinge sehr viele Menschen „an den Rand der Leistungsfähigkeit bringt“. Es würdigte, dass die Hauptamtlichen viel Unterstützung vonseiten der Ehrenamtlichen erfahren würden. Ganz viele der geflüchteten Menschen seien in Privatunterkünften untergekommen, viele Menschen hätten eigenen Wohnraum zur Verfügung gestellt oder Wohnraum, der schon seit längerer Zeit nicht mehr vermietet worden sei. „Ich bin sehr, sehr dankbar dafür. Wir schätzen und honorieren dies.“ Mit dem Sachstandsbericht wollte er einen Einblick geben, wie die Verwaltung die Lage beurteilt und welche Perspektiven es gebe. Integrationsmanagerin Sandra Amofah präsentierte daher eine Auflistung, wie sich die Zuweisung der Flüchtlinge für die Stadt Backnang seit 2015 entwickelt hat.

Nur 16 Personen gelten als „reguläre Flüchtlinge“

Die Tatsache, dass die Werte 2015/16 relativ überschaubar waren, erläuterte sie mit der Regelung, dass die Kommunen erst mit zwei Jahren Versatz für die Flüchtlinge verantwortlich sind, nämlich dann, wenn diese von der Gemeinschafts- in die Anschlussunterbringung wechseln. So musste sich Backnang 2015 nur um 25 Flüchtlinge kümmern, im Jahr darauf um 111 geflüchtete Menschen. Dann jedoch, im Jahr 2017, stieg der Wert auf den bisherigen Höchststand von 248 zugewiesenen Geflüchteten an, um dann bis 2020 kontinuierlich wieder abzufallen. So mussten vor zwei Jahren nur 52 Menschen aufgenommen werden. Im laufenden Jahr hingegen hat die Stadt Backnang bereits 228 Geflüchtete zugeteilt bekommen. Diese Zahl zeigt eindrucksvoll die enorme Herausforderung, vor der alle derzeit in diesem Bereich stehen. Amofah: „Es ist noch nicht einmal das erste halbe Jahr vorbei, und wir haben fast schon die Zahlen aus der Hochphase erreicht. Und wenn wir bedenken, dass der Krieg in der Ukraine erst Ende Februar begonnen hat, so sprechen wir von drei Monaten. Von diesen 228 Personen, die uns in den ersten fünf Monaten zugewiesen wurden, entfallen nur 16 Personen auf die „regulären Flüchtlinge“, alle anderen sind Geflohene aus der Ukraine.

Gleich mehrere Stadträte kannten sich relativ gut aus mit den Problemen, vor denen die ukrainischen Geflüchteten stehen, weil sie selbst welche aufgenommen haben. Lob und Tadel gab es etwa von Willy Härtner (Grüne). Die Mitarbeiter der Stadt würden sehr schnell klären, ob angebotener Wohnraum tauge oder nicht oder was geändert werden müsse. Auch die Angebote für die Geflüchteten seien prinzipiell in Ordnung. Allerdings, so monierte Härtner, würden die Geflüchteten wenig davon erfahren: „Diese Angebote müssen den Menschen dringend in ukrainischer Sprache zugestellt werden.“ Dass Kinder etwa aufgrund mangelnder Kenntnis von Angeboten in der Wohnung „eingesperrt“ seien, bezeichnete Härtner als „Schande“. OB Friedrich nahm die Kritik sofort auf und versprach, die Angebote in der Sprache der Flüchtlinge zuzustellen. Auch Siglinde Lohrmann (SPD) kritisierte: „Es fehlt am Rüberbringen.“ Die Flüchtlinge in den Anschlussunterkünften würden zwar gut betreut werden, aber die Flüchtlinge in den privaten Unterkünften „kommen nicht alleine zurecht in dem fremden Land“. Sie forderte, die Kinder sofort in die Schule zu schicken. Ihr war klar: „Diese werden das anfangs nicht wollen, aber nach wenigen Tagen sind sie dort glücklich, weil sie auf Landsleute treffen.“

Lohrmann und Härtner forderten Unterstützung bei der Bürokratie. Friedrich pflichtete ihnen bei: „Ich bezweifle, ob jeder Deutsche diese Anträge korrekt ausfüllen könnte.“ Alle warben für das städtische Angebot, wonach alle Ukraineflüchtlinge am Donnerstag und Freitag, 19. und 20. Mai, von 8.30 bis 12.30 Uhr im Seniorenbüro, Im Biegel 13, in ukrainischer Sprache bei der Antragsstellung unterstützt werden.

Ein weiterer Mahner war Heinz Franke (SPD): Er warnte, die verschiedenen Flüchtlingsgruppen etwa bei der Wohnungssuche gegeneinander auszuspielen: „Da müssen wir als Stadtverwaltung aufpassen, dass wir nicht in ein gefährliches Fahrwasser geraten. Ich sehe die Problematik jeden Tag, wenn 150 Ukrainer in die Tafel kommen. Es ist nicht gut, wenn die eine Gruppe überhöht und die andere hängen gelassen wird.“ Sah auch Friedrich so: „Es muss uns allen klar sein, es gibt keine Flüchtlinge erster, zweiter und dritter Klasse.“ Lutz-Dietrich Schweizer (CIB) verwies jedoch auf einen grundlegenden Unterschied: „Es ist schon eine andere Klasse an Leuten, die Ukrainer wollen so schnell wie möglich wieder heim.“

Nur wenige Ukrainer sind bislang in den Flüchtlingsheimen untergebracht

Anschlussunterbringung In den vier städtischen Unterkünften für die Anschlussunterbringung leben aktuell 216 Menschen, darunter fast keine aus der Ukraine. Die größte Unterkunft ist derzeit noch das Heim Hohenheimerstraße mit 86 Asylbewerbern, gefolgt von den Unterkünften Etzwiesenberg (62) und der Gartenstraße (50). Mit 18 Personen am wenigsten belegt ist aktuell das Gebäude Stuttgarter Straße 56. Insgesamt gibt es in Backnang noch 133 freie Plätze in den Unterkünften der Anschlussunterbringung.

Integrationsmanagement Die Integrationsmanager sind sowohl für die Geflüchteten in den Unterkünften Ansprechpartner als auch für die, die im Stadtgebiet in privaten Wohnungen untergekommen sind und trotz alledem noch Beratungsbedarf haben. Die Mehrzahl, 56 Prozent aller betreuten Personen, leben in Privathaushalten, und nur 44 Prozent in den Heimen.

Ukrainer Von den 239 Geflüchteten aus der Ukraine sind fast zwei Drittel weiblich. Während das Geschlechterverhältnis bei den Kindern, Jugendlichen und Senioren ausgewogen ist, überwiegen in der Spanne 18 bis 60 Jahre die Frauen. Auf über 100 Frauen kommen 24 Männer. In Backnang haben hauptsächlich alleinerziehende Mütter Unterkunft gefunden. Im Gegensatz zu anderen Flüchtlingskontingenten haben sie zum Großteil (71 Prozent) privat über Verwandtschaften oder Bekanntschaften Wohnraum gefunden. Weitere zwölf Prozent sind privat untergebracht und nur 17 Prozent leben aktuell in einer Anschlussunterkunft. Die Lage wird von Amofah als sehr dynamisch beschrieben. Viele Backnanger haben ihre Gästezimmer zur Verfügung gestellt und leben nun auf engstem Raum mit den Geflohenen zusammen. Auf längere Sicht ist dies keine Lösung, diese Menschen müssen anders untergebracht werden.

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Erstellt:
17. Mai 2022, 06:00 Uhr

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