Sehnsucht nach dem Bergdoktor

Bürgergespräch thematisiert umstrittene telemedizinische Arztpraxis – Auch nach drei Monaten keine Patienten

Seit Jahren gibt es keinen Allgemeinarzt mehr in Spiegelberg. Ein Forschungsprojekt, finanziert mit Geldern des Bundes, sollte dem Abhilfe schaffen. Die sogenannte Ohne-Arzt-Praxis, in der der Mediziner per Videokonferenz kontaktiert werden kann, wird jedoch bisher nicht angenommen.

In der Spiegelberger Ohne-Arzt-Praxis wartete Susanna Euerle drei Monate lang vergebens auf Patienten. Im Bürgergespräch wurden nun auch Zweifel hinsichtlich ihrer Befugnisse thematisiert. Archivbild: J. Fiedler

© Jörg Fiedler

In der Spiegelberger Ohne-Arzt-Praxis wartete Susanna Euerle drei Monate lang vergebens auf Patienten. Im Bürgergespräch wurden nun auch Zweifel hinsichtlich ihrer Befugnisse thematisiert. Archivbild: J. Fiedler

Von Carmen Warstat

SPIEGELBERG. Im Feuerwehrgerätehaus stehen die Stühle wegen des Coronavirus in einem Meter Abstand voneinander. Damit folgt das Rathaus den Vorgaben zum Schutz der Bürger und Bürgermeister Uwe Bossert spricht zunächst und „am Rande“ über bereits abgesagte und noch abzusagende Veranstaltungen in der kleinen Gemeinde. Dann erinnert er an die Auftaktveranstaltung zur Einführung der Ohne-Arzt-Praxis, die im Oktober 2019 stattfand und auf riesiges, auch überregionales Interesse der Medien stieß. Auch an diesem Abend ist unter anderem der SWR vor Ort, um darüber zu berichten, warum das moderne Projekt nicht angenommen wird. „Woran liegt’s?“, fragt Bossert. Das solle dieser Abend erhellen, damit man Schlüsse ziehen könne für weitere Forschungsprojekte, denn: „Telemedizin wird es in Zukunft öfter geben.“ Moderiert wird das Bürgergespräch von Tobias Gantner, dem Vertreter der projekttragenden PhilonMed GmbH Heidelberg.

Leistungsumfang ist nicht genau definiert

Zunächst stellt dieser klar: „Ich möchte hören und selbst nicht viel reden.“ Das Forschungsprojekt sei ergebnisoffen angelegt und es gelte zu lernen, „welche Konstellationen erfolgreich sind und welche nicht.“ Die fehlende Resonanz auf das telemedizinische Angebot, das vor drei Monaten gestartet wurde, sei nicht als Scheitern, sondern als Ergebnis zu verstehen, als Erfahrung. Aufgewendete Zeit und Investitionen seien nicht verloren, der Erfolg liege eben – wie immer in der Forschung – im Ergebnis. Freilich sei es wahrscheinlich verantwortungslos, das Projekt noch lange fortzusetzen. Er werde die Bürgerbeiträge also nicht kommentieren, und das solle heute kein Streitgespräch werden. Vielmehr wolle er Feedback abholen. „Erzählen Sie frei von der Seele! Frei von der Leber!“

Die Spiegelberger lassen sich nicht lange bitten und machen ihrer Verunsicherung und ihrem Unmut Luft. Ein Bürger fragt nach den Kompetenzen der Krankenschwester Susanna Euerle, die regelmäßig auf Patienten wartet: Darf sie beispielsweise eine Vitaminspritze setzen? Gantner spricht in seiner Antwort von einer juristischen Grauzone. Der Arzt dürfe bestimmte Dinge delegieren, und Susanna Euerle habe beim derzeit einzigen Spiegelberger Teledoktor, Dr. Jens Steinat aus Oppenweiler, ein Praktikum gemacht. Konkreter wird Gantner nicht, äußert aber die Ansicht, dass der Leistungsumfang in der Landmedizin genau definiert sein müsse.

Offensichtlich könne oder dürfe die Schwester nur eingeschränkt Aufgaben wahrnehmen, vermutet ein weiterer Bürger. „Dann kann ich selbst online gehen und die App aufrufen.“ Außerdem bezeichnet er das direkte Gespräch mit dem Arzt als wichtig, besonders für ältere Leute. Als „Bankrotterklärung der Politik, die es nicht schafft, Ärzte aufs Land zu holen“ wird die Situation charakterisiert und – halb im Scherz zwar, aber doch nachvollziehbar – der Wunsch nach einer Art „Bergdoktor“ formuliert.

Eine weitere Bürgerin beklagt, dass man überall abgewiesen werde und sie nur wegen einer Krankmeldung nach Wüstenrot fahren müsse. Die allgemeine Unkenntnis des telemedizinischen Konzepts wird deutlich. Gantner erläutert, dass die Praxis für alle Ärzte offen ist. „Gehen Sie zu Ihrem Hausarzt und bitten Sie ihn, da mitzumachen. Es kostet ihn nichts, er kann es sogar zu 80 Prozent abrechnen.“

Fazit: Die Kommunikation muss anders gestaltet werden

Aus unterschiedlichen Gründen sei Steinat der einzige, der sich beteiligt hat, aber: „Wir wollten, dass die Patienten ihre Ärzte mitbringen. Ärzte und Patienten sollten ja in ihrer Verbindung bleiben und der menschliche Faktor nicht verloren gehen.“

Wie ist das denn eigentlich mit der Terminplanung, wird weiter gefragt. Antwort: Sie hätten dann praktisch einen Doppeltermin, beim Hausarzt und beim Telearzt. Das „Gefühl, dass wir es kapiert haben, nur die niedergelassenen Ärzte nicht“, wird etwas flapsig zum Ausdruck gebracht und in den Raum gestellt, ob in Zeiten von Corona die Telemedizin nicht eine Riesenchance sei. Gantner dazu: „Die Telepraxis behandelt nur kleine Sachen, einfache Fälle, nichts Komplexes.“ Für die Pandemie sei man nicht ausgerüstet. „Wenn wir die Möglichkeit hätten, würden wir die Tests machen.“ Aber: Susanna Euerle beantworte vom Homeoffice aus Fragen rund um Corona. Fast wehmütig erinnern sich die Spiegelberger an „das System Gemeindekrankenschwester“, die noch motorisiert war. Und Tobias Gantner stimmt zu: „Wir haben uns das auch überlegt.“ Diskutiert wird weiterhin über die möglichen Gründe für das Desinteresse der Ärzteschaft an der Telemedizin, über E-Rezepte und E-Krankmeldungen, über die Gesetzgebung an sich sowie die Bürokratie im Gesundheitswesen und andere Fragen. Das wichtigste Fazit wohl: „Wir müssen es anders kommunizieren.“ Gantner spricht’s und ergänzt: „Fragen Sie Ihren Doktor!“ Und: „Bleiben Sie gesund!“

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Erstellt:
14. März 2020, 11:30 Uhr

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