Sieben Wochen voller Mehl im vergangenen Frühjahr

Die Müllerfamilie der Seemühle in Unterweissach blickt auf die verrückte Zeit während der ersten Coronawelle im Vorjahr zurück. Das Mahlwerk läuft ununterbrochen – tagsüber, nachts, samstags, sonntags, selbst an Ostern. Alle Müller ziehen Parallelen zum Krieg.

Ein Jahr nach dem ersten Lockdown erzählen Christina Antony und Manfred (Mitte) und Andreas Thiel von der Zeit des ersten Lockdowns und dem Trockenhefemonopol. Die drei sind sich einig: „Wir waren wie im Tunnel, es gab nur noch Mehl.“ Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Ein Jahr nach dem ersten Lockdown erzählen Christina Antony und Manfred (Mitte) und Andreas Thiel von der Zeit des ersten Lockdowns und dem Trockenhefemonopol. Die drei sind sich einig: „Wir waren wie im Tunnel, es gab nur noch Mehl.“ Foto: A. Becher

Von Renate Schweizer

WEISSACH IM TAL. Es gibt Jahrestage, die vergisst man nicht. Für Manfred Thiel, den Müllermeister der Seemühle in Unterweissach ist der 1. März so ein Tag. Letztes Jahr, im Jahr 2020, das alle nur als das Coronajahr in Erinnerung behalten werden, fiel der 1. März auf einen Sonntag. Schon am Mittwoch davor, am 26. Februar war sich Manfred Thiel, Müllermeister der Seemühle, sicher: Irgendetwas stimmt hier nicht. Vier Tage danach mahlten sie zum ersten Mal sonntags Mehl. Und danach? Danach standen die Mahlwerke sieben Wochen lang praktisch nicht mehr still: Tags nicht, nachts nicht, samstags und sonntags nicht, sogar am Ostermontag lief die Mühle auf Hochtouren. Sie erzählen die Geschichte zu dritt: Vater Manfred, Sohn Andreas (ebenfalls Müllermeister), Tochter Christina Antony. Auf der Suche nach ihrer Berufsbezeichnung sind sie sich schnell einig: Sie ist „die Chefin“. Außerdem sind im Boot: Dennis Antony, der Schwiegersohn und Nico Rojahn, Müllermeister – ein Familienbetrieb eben, der Klassiker.

Wenn sie vom vergangenen Jahr in der Seemühle erzählen, dann steigt die Temperatur im Raum, dann wird die Sprechgeschwindigkeit immer höher, dann purzeln die Geschichten über- und untereinander, dann vergisst der Fotograf das Fotografieren und mitschreiben geht sowieso nicht mehr. Denn genau vor einem Jahr überstürzten sich in der Seemühle – wie in allen Mühlen im Land – die Ereignisse: Plötzlich wollten alle Mehl. Die Mühlenkunden, die schon immer dort eingekauft hatten. Neue Kunden, die in den leer gefegten Regalen der Supermärkte kein Mehl mehr fanden. Die Wiederverkäufer, also die Märkte der Region – „abends um zehn, wenn ich vom Ausliefern zurückkam“, so erzählt Manfred Thiel, „waren schon wieder die neuen Bestellungen da. Zum Teil von den gleichen Supermärkten, die ich eben beliefert hatte. Zu Anfang waren da noch Mehlsorten drauf und Kiloangaben. Irgendwann fehlten die Sorten, dann die Mengenangaben. Eines Tages flatterte eine Bestellung herein, auf der standen nur die drei Worte: Wir brauchen Mehl!“

Früher hatte er die Palette Mehl direkt vor dem Regal im Markt abgestellt, damit die Mitarbeiter sie bloß noch einzuräumen brauchten. Im letzten Frühjahr belieferten sie Hintereingänge. Das Mehl ging direkt ins Lager und wurde nur auf Anfrage und kiloweise verkauft. Der Inhaber des nahe gelegenen Supermarkts kam mit Klopapier und machte Tauschangebote.

Irgendwann hörten sie auf, Brotmischungen herzustellen, irgendwann gab es nur noch zwei Sorten Mehl: Weißmehl, Typ 405 und Brotmehl, Typ 1050. Als die Tüten ausgingen, verpackten sie die entsprechenden Mehlsorten eben in andere Tüten – egal, was draufstand: Es war Mehl. Glück, Zufall und Beziehungen spielten ihnen Trockenhefe in die Hände. Fünfgrammweise packten sie sie ab, mit Esslöffeln und Küchenwaage, Christina und Andreas von 8 Uhr bis Mitternacht, Manfred von 3 bis 22 Uhr. „Wir lebten von Fast Food, Süßigkeiten und Red Bull – jeder von uns hat fünf Kilo abgenommen.“ Trotz allem erzählen sie mit leuchtenden Augen, wie Überlebende. „Das Schlimme“, da sind sie sich einig, „war nicht die Arbeit, sondern dass wir unsere Kinder nicht mehr sahen.“ Andreas ist letztes Jahr Vater geworden, Christina sprach oder spielte manchmal morgens mit ihren Kindern, bevor sie um 8 Uhr den Mühlenladen öffnete. Keiner jammert, nicht eine Sekunde lang: „Wir hatten es gut. Wir konnten was tun und wir haben es getan. Wir waren wie im Tunnel, es gab nur noch Mehl.“ Es war, so Manfred Thiel, „die Vorstufe zum Krieg“.

Auch die anderen Müller im Gäu verwenden die Kriegsmetapher. Hartmut Kugler von der Rümelinsmühle in Murrhardt erzählt: „Sie kamen von Stuttgart nach Murrhardt wie nach dem Krieg und wollten Mehl – Leute, die ich nie zuvor in meiner Mühle gesehen hatte.“ Ulrich Stietz von der Hegnacher Mühle spricht ebenfalls vom Krieg. „Und dabei war ja die Rohware, der Weizen, niemals knapp. Auch die Preise stiegen nicht. Da war einfach über Nacht dieser Mehrbedarf, mit dem kein Mensch gerechnet hatte. Vor Weihnachten, ja, da weiß man, dass die Leute Mehl brauchen. Aber im März? Das war noch nie.“

Die großen Industriemühlen, deren Mahlwerke sowieso Tag und Nacht im Drei-Schicht-Betrieb laufen, hatten keinen Spielraum, die Produktion plötzlich anzukurbeln. Die kleinen Mühlen, die sonst zwei-, höchstens dreimal pro Woche mahlen, die schon. Die können einfach mehr arbeiten als vorher. Noch mehr. Erst recht, wenn die meisten Mitarbeiter nicht Angestellte, sondern Familienangehörige sind. „Wir haben gebetet“, erzählen die Thiels: „Lieber Gott, lass Samstagmittag werden, damit wir den Laden schließen und in Ruhe arbeiten können.“ Das war der erste Vers. Und der zweite ging so: „Und lass die Maschinen durchhalten!“ Das älteste Mahlwerk der Seemühle stammt nämlich aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg – im Gegensatz zu den Menschen könnte das schon mal müde werden.

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Erstellt:
8. März 2021, 11:30 Uhr

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